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Arbeitsrecht von Hans Gottlob Rühle

 

Hans Gottlob RühleHans Gottlob Rühle,
Richter am Arbeitsgericht Gießen,
Direktor des Arbeitsgerichts Marburg a.D.,
gibt Praxistips rund um das Thema Bewerbung und Arbeitsrecht.

 

Folge 332: Schutz der behinderten Menschen III

Frage:

Darf ich als behinderter Bewerber benachteiligt werden, wenn ich mich für eine bestimmte Stelle interessiere oder befördert werden will? Auf welchen Gebieten muß der Arbeitgeber den Behindertenschutz berücksichtigen, nur bei der Einstellung oder auch bei einer Versetzung oder bei einer Kündigung? Kann ich notfalls den Betriebsrat oder die Arbeitsagentur einschalten? Muß der Arbeitgeber die Gremien wie Betriebsrat oder Schwerbehindertenvertretung beteiligen und wo?

Der Fall:

    Der gottesfürchtige und partiell gesetzestreue Arbeitgeber Johannes Calvinus will in seinem Betrieb möglichst Diskriminierungen vermeiden und behinderte Mitarbeiter und Bewerber nicht benachteiligen. Er fragt sich, für welche Gebiete der Diskriminierungsschutz gesetzlich vorgesehen ist.
    Der schwerbehinderte Bewerber Georgio de Chirico wird vom Arbeitgeber Johannes Calvinus nicht berücksichtigt. Er erhält seine Bewerbungsunterlagen zurück. Der Leiter der Arbeitsagentur Ludwig Ganghofer beschwert sich, daß er bei der Neubesetzung der freien Stelle durch den Arbeitgeber Calvinus nicht informiert wurde. Der Vorsitzende der Schwerbehindertenvertretung Marc Chagall will sogar vor Gericht gehen, weil der Arbeitgeber ihn nicht über den schwerbehinderten Bewerber Georgio de Chirico informiert hat.

Die Lösung:

1. Anwendungsbereich des AGG

    In § 2 AGG ist geregelt, daß Benachteiligungen und Diskriminierungen unter anderem wegen Behinderung in folgenden Fällen unzulässig sind:
    – Bei Auswahlkriterien und Einstellungen sowie Einstellungsbedingungen für den Zugang zu selbständigen und selbständigen Erwerbstätigkeiten, also insbesondere zu Arbeitsverhältnissen, unabhängig vom Tätigkeitsfeld in der beruflichen Position,
    – bei der Auswahl für den beruflichen Aufstieg, Beförderung,
    – bei Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, einschließlich dem Arbeitsentgelt,
    – bei Kündigungen und Entlassungen sowie Entlassungsbedingungen, insbesondere auch bei individualrechtlichen Vereinbarungen oder bei kollektivrechtlichen Vereinbarungen/Betriebsvereinbarungen und Maßnahmen im Zusammenhang mit der Beendigung eines Beschäftigungsverhältnisses,
    – bei allen Ebenen der Berufsberatung, der Berufsbildung, einschließlich der Berufsausbildung und der beruflichen Weiterbildung sowie Umschulung,
    – bei sozialen Vergünstigungen.
    Im Ergebnis bedeutet dies, daß der Gesetzgeber in § 2 AGG Diskriminierungen wegen Behinderung etc. im ganzen Bereich des Arbeitsverhältnisses verboten hat, soweit nicht ein sachlicher Grund besteht.

2. Stellenausschreibungen

    Wenn Arbeitgeber Calvinus Probleme im Diskriminierungsbereich und mögliche Entschädigungspflichten vermeiden will, so muß er bereits bei der Stellenausschreibung ansetzen, unabhängig davon, ob diese Stellenausschreibung betriebsintern erfolgt, in der Presse oder im Internet. Er darf insbesondere keine Benachteiligung wegen des Geschlechtes oder wegen einer Schwerbehinderung durchführen.
    Schon die vor dem AGG geltenden Vorschriften verlangten vom Arbeitgeber eine neutrale Stellenausschreibung. Es ist deshalb allen Arbeitgebern zu empfehlen, die Stellenausschreibung möglichst ohne zusätzliche Attribute und Ausschmückungen auf die zu erbringende Tätigkeit und das Anforderungsprofil zu beschränken.
    Sind allerdings für die zu besetzende Stelle und Tätigkeit bestimmte körperliche Funktionen oder geistige Anforderungen notwendig, so darf dies der Arbeitgeber in die Ausschreibung hinein nehmen.
    Beispiele: Formulierungen wie „junger, behender Hase“ oder „körperlich und geistig voll belastbar“ oder „uneingeschränkte Leistungsfähigkeit“ oder „uneingeschränkt körperlich einsetzbar“, „mit beiden Beinen fest auf dem Boden stehend“ etc. sollten möglichst vermieden werden, da hier im Zweifel behinderte Bewerber zu Recht eine Diskriminierung schon bei der Stellenausschreibung wegen Behinderung rügen können.
    Bedient sich der Arbeitgeber zur Stellenausschreibung dritter Personen, z.B. eines Personalvermittlers oder der Arbeitsagentur, so muß er nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts die Ausschreibung überwachen und für eine diskriminierungsfreie Ausschreibung Sorge tragen.

3. Prüfungspflicht des Arbeitgebers

    Nach § 81 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist der Arbeitgeber Calvinus verpflichtet, zu prüfen, ob freie Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Menschen besetzt werden können. Dabei ist er verpflichtet, insbesondere mit der Agentur für Arbeit zusammenzuarbeiten und nachzufragen, ob arbeitslos oder arbeitssuchend gemeldete schwerbehinderte Menschen vorhanden sind, die für die Stelle geeignet wären.
    Der Gesetzgeber hat diese Regel aufgestellt, weil er davon ausgeht, daß in vielen Fällen gegen schwerbehinderte Menschen Vorbehalte wegen ihrer Leistungsfähigkeit bestehen, auch wenn dies in den allermeisten Fällen überhaupt nicht begründet ist. Der Gesetzgeber verlangt deshalb vom Arbeitgeber eine aktive Mitwirkungspflicht zur Integration und Eingliederung schwerbehinderter Menschen.
    Aus diesem Grunde ist Arbeitgeber Calvinus verpflichtet, bei jeder Einstellung zu prüfen, ob freie Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Menschen besetzt werden können und ob bei der Arbeitsagentur solche potentiellen Bewerber vorhanden sind. Dazu muß er frühzeitig mit der zuständigen Agentur für Arbeit zusammenarbeiten.
    Um möglichst vielen schwerbehinderten Bewerbern die Möglichkeit zur Einstellung zu verschaffen, besteht die Prüfungs- und Meldepflicht auch dann, wenn sich bereits schwerbehinderte Menschen beim Arbeitgeber beworben haben.
    Der Leiter der Arbeitsagentur Ludwig Ganghofer beschwert sich deshalb zu Recht, daß Arbeitgeber Calvinus ihm die freie, zu besetzende Stelle nicht gemeldet hat.
    Nur dann, wenn die ursprünglich freie Stelle nicht mehr besetzt werden soll, weil sie z.B. wegrationalisiert wird, entfällt diese Prüfungs- und Meldepflicht.

4. Beteiligung der Gremien

    Wenn der Arbeitgeber Arbeitsagentur oder das Kreisjobcenter informiert hat, so schlägt diese Institution dem Arbeitgeber geeignete schwerbehinderte Menschen vor, soweit dort solche Bewerber gemeldet sind.
    Über diese Vermittlungsvorschläge und die dann vorliegenden Bewerbungen von schwerbehinderten Menschen muß der Arbeitgeber sowohl die Schwerbehindertenvertretung wie auch den Betriebsrat/den Personalrat unmittelbar nach Eingang der Bewerbung unterrichten. Schon bei der Prüfung der freien Arbeitsstelle auf die Möglichkeit der Besetzung von schwerbehinderten Menschen hin hat der Arbeitgeber nach § 81 Abs. 1 Satz 6 die Schwerbehindertenvertretung und den Betriebsrat/den Personalrat zu beteiligen bzw. anzuhören.
    Diese schnelle Beteiligung der Gremien ist wichtig, da diese erst nach einer entsprechenden Unterrichtung ihren gesetzlichen Aufgaben genügen können.
    Für die gesetzlich normierte Unterrichtungs- und Anhörungspflicht spielt es keine Rolle, ob nach Meinung des Arbeitgebers ein geeigneter schwerbehinderter Mensch sich unter den Bewerbern oder den Vorschlägen der Arbeitsagentur befindet. Die eigentliche Prüfung der Bewerbungen und der Vorschläge muß stets zusammen mit den Personalvertretungen erfolgen.
    Dazu muß der Arbeitgeber dann auch den entsprechenden Gremien die notwendigen Unterlagen zur Verfügung stellen. Insoweit entspricht die Rechtslage der Anhörung des Betriebsrats nach § 99 Betriebsverfassungsgesetz. Ohne die Bewerbungsunterlagen wäre die Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung nicht sinnvoll, da diese keine fundierte Stellungnahme abgeben kann. Aus diesem Grunde hat die Schwerbehindertenvertretung wie der Betriebsrat/der Personalrat das Recht auf Einsicht in die maßgeblichen Teile der Bewerbungsunterlagen aller Bewerber, um sich ein umfassendes Bild der Eignung des schwerbehinderten Bewerbers mit den anderen Bewerbern machen zu können.
    Der Vorsitzende der Schwerbehindertenvertretung Marc Chagall beschwert sich deshalb ebenfalls zu Recht, daß Arbeitgeber Calvinus ihn vor der geplanten Einstellung eines anderen Bewerbers nicht informiert, nicht mit ihm beraten und ihn nicht beteiligt hat.

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Textübernahmen aus den Arbeitsrechtsfolgen von Hans Gottlob Rühle:
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Stichwort-Überblick über die Arbeitsrechts-Folgen:

Abmahnung, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, Arbeitszeugnis, Assessment-Center, Ausgleichsquittung, Beendigungsvergleich, Befristungsrecht, Berufsschulunterricht, Betriebliche Altersversorgung (Entgeltumwandlung, “Riester-Rente”), Betriebliche Mitarbeiterkontrollen, Betriebsausflug, Bewerbungsgespräch, Bewerbungskosten, Bewerbungsurlaub, Dumpinglöhne/Lohnwucher, Ein-Euro-Job, Einstellungsuntersuchung, Elternzeitgesetz, Ethik-Regeln, Erziehungsurlaub/-geld, Gebetspausen, Gehaltsüberzahlung, Geldbußen-Erstattung, Gentest, Gleichbehandlung: (Bewerberauswahl, Gewerbeordnung (neue Regelung), Lohn, Nichteheliche Lebensverhältnisse, Stellenausschreibung), Hartz IV, Kündigung: (Kündigung - was tun? Alkoholmißbrauch, Unzeit, Kleinbetriebe, Kopftuchtragen, Privattelefonate/SMS, Internetnutzung, Schlechtleistung, Schriftform, Sittenwidrige Vergütung, Sperrzeitprobleme, Wiedereinstellungsanspruch, Diebstahl, Schwangerschaft), Kündigungsrecht 2004 (Neuer Abfindungsanspruch, Sozialauswahl, Klagefrist), Lohngrundsätze, Mobbing, Nebentätigkeitsverbot, Psychologisches Gutachten, Rauchverbot/Nichtraucherschutz, Sperrzeit, Teilzeitarbeit (TzBfG), Schwerbehindertenschutz, Videoüberwachung, Weihnachtsgeld (Rückzahlungspflicht)
  

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Arbeitsrecht
von H.G. Rühle

Übersicht über alle bisher erschienenen Folgen:
Folge 1 - 100
Folge 101 - 200
Folge 201 - 300
Folge 301 ff.

 

Folgenübersicht:

1 - 12:
Freie Bewerberauswahl?
Einstellungsuntersuchung Erkundigungen Bewerbungsurlaub
Bewerbungskosten
Zulässige/unzul. Fragen i. Vorstellungsgespräch

13 - 24:
Psych. Gutachten
Gentest
Assessment Center
Neues Befristungsrecht / Teilzeitarbeit (TzBfG)

25 - 36:
Forts. Befristungsrecht / Teilzeitarbeit (TzBfG)
Neues im Erziehungsrecht

37 - 48:
Berufsschule/Freistellung
Dumpinglöhne
Kündigung/soz. Aspekte
Mobbing

49 - 60:
Das Arbeitszeugnis
Zeugnisgrundsätze
Zeugnissprache
Zeugnisbenotung
Zeugnisformulierung

61 - 72:
Kündigung/Kopftuchtragen
Blutuntersuchungen

73 - 84:
Abmahnung
Andere Sanktionen

85 - 96:
Betriebl. Altersversorgung
Betriebsrente
“Riester-Rente”
Entgeltumwandlung

97 - 108:
Forts. “Riester-Rente”
Weihnachtsgratifikation
Kündigung/Schwangersch.
Gebetspausen
Krankheitsvertretung

109 - 120:
Lohngrundsätze I-V
Nebentätigkeitsverbot
Mobbing I-VI

121 - 132:
Kündigung - was tun?
Checkliste

133 - 144:
Kündigung - was tun?
Soll ich klagen?
Wer kann mich beraten?
Wie soll ich klagen?

145 - 156:
Neues Kündigungsrecht 2004

157 - 168:
Neues Kündigungsrecht
Sozialauswahl
Klagefrist
Neuregelung TzBfG

169 - 180:
Hartz IV
Ein-Euro-Job

181-192:
Ein-Euro-Job Forts.
Ausgleichsquittung /
unzulässiger Lohnverzicht

193 - 204:
Betriebsausflug
Elternzeit
Betriebsübergang

205 - 216:
Betriebliche Mitarbeiterkontrollen
Videoüberwachung
Schwerbehindertenschutz

217 - 228:
Neue Gewerbeordnung
Gebetspausen

228 - 240:
Neue Sperrzeitprobleme
Beendigungsvergleich

241 - 252
Ethik-Regeln I-XII

253 - 264
Hitzeregelungen
Internetnutzung (Kündigung)

265 - 276
Nebentätigkeiten
Arbeit auf Abruf

277 - 288
Arbeitslosengeld - Sperrfrist
Neues Elternzeitgesetz / Elterngeld

289 - 300
Arbeitsrechtliche Schwellenwerte
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

301 - 312
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

313 - 323
Sittenwidrige Vergütung

324 - 335
Schutz der behinderten Menschen

336 - 347
Schutz der behinderten Menschen
Annahmeverzug