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Arbeitsrecht von Hans Gottlob Rühle

 

Hans Gottlob RühleHans Gottlob Rühle,
Richter am Arbeitsgericht Gießen,
Direktor des Arbeitsgerichts Marburg a.D.,
gibt Praxistips rund um das Thema Bewerbung und Arbeitsrecht.

 

Folge 106: Kündigung bei Schwangerschaft - Verlust des Benachrichtigungsbriefes auf dem Postweg

Der Fall:

    Der sangesfreudige Gastwirt Gotthilf Schiffer beschäftigt die ebenfalls musikalisch vorbelastete Yoko Uno in seiner Gaststätte als Bedienung. Nachdem Yoko Uno in der Gaststätte immer wieder Beatles-Platten abspielte, statt Volkslieder, kündigte Arbeitgeber Gotthilf Schiffer das Arbeitsverhältnis der Parteien am 29.7.2002 fristgerecht zum 30.9.2002.
    Der Frauenarzt von Yoko Uno stellte am 17.8.2002 eine Schwangerschaft im dritten Monat fest.
    Yoko Uno behauptet, daß sie gleich am 18.8. die Schwangerschaftsbescheinigung per einfachem Brief an Arbeitgeber Gotthilf Schiffer gesandt hat. Zeuge sei ihr fürsorglicher Lebensgefährte Alfred Bio, der sie bis zum Briefkasten begleitet habe.
    Gotthilf behauptet, keinen Brief empfangen zu haben. Er habe erst durch den Anruf von Yoko Uno am 22.9.2002 von der Schwangerschaft erfahren.
    Yoko beruft sich auf das absolute Kündigungsverbot des § 9 Mutterschutzgesetz bei Schwangerschaft. Sie will bei Gotthilf weiter Beatles-Platten spielen lassen zur Hebung des Niveaus. Gotthilf dagegen beruft sich darauf, daß Yoko die zweiwöchige Meldefrist des § 9 Mutterschutzgesetz versäumt hat. Die Kündigung seiner einzigen Mitarbeiterin sei rechtswirksam.
    Wer hat recht?

Die Lösung:

1. § 9 Mutterschutzgesetz

    § 9 MuSchG enthält in Abs. 1 ein absolutes Kündigungsverbot für schwangere Arbeitnehmerinnen. Die Vorschrift bestimmt:
    Die Kündigung gegenüber einer Frau während der Schwangerschaft und bis zum Ablauf von 4 Monaten nach der Entbindung ist unzulässig, wenn dem Arbeitgeber zur Zeit der Kündigung die Schwangerschaft oder Entbindung bekannt war oder innerhalb zweier Wochen nach Zugang der Kündigung mitgeteilt wird.
    Yoko Uno war zum Zeitpunkt des Kündigungszuganges schwanger. Ihr Frauenarzt hat allerdings die Schwangerschaft erst knapp 3 Wochen nach Zugang der Kündigung festgestellt. Für solche Fälle bestimmt das Gesetz weiter:
    Das Überschreiten der Meldefrist von 2 Wochen ist unschädlich, wenn es auf einem von der Frau nicht zu vertretenden Grund beruht und die Mitteilung unverzüglich nachgeholt wird.
    Diese Ergänzung des Gesetzes beruht gerade auf den Fällen, in denen die Schwangerschaft der Mitarbeiterin erst nach Ausspruch der Kündigung unverschuldet bekannt wird. Dies gilt auch für Yoko Uno.

2. Zwei-Wochen-Frist

    Yoko Uno hat aufgrund der verspäteten Erkenntnis nicht die Möglichkeit gehabt, die gesetzliche 2-Wochen-Frist nach Zugang der Kündigung einzuhalten und rechtzeitig eine Schwangerschaftsmitteilung zu machen. Sie mußte deshalb diese Mitteilung dann unverzüglich nachholen.
    Unstreitig hat Yoko Uno dem Arbeitgeber Gotthilf im Telefonat vom 22.9.2002 ihre Schwangerschaft mitgeteilt. Dies wäre aber bezogen auf die Feststellung des Frauenarztes am 17.8.2002 nicht mehr unverzüglich gewesen. Yoko hat dagegen behauptet, schon am 18.8.2002 einen Brief abgeschickt zu haben.

3. Form der Mitteilung

    Das Gesetz schreibt nicht vor, in welcher Form die Mitteilung der Schwangerschaft zu erfolgen hat. Aus Beweisgründen ist immer eine schriftliche Mitteilung, möglichst mit der Schwangerschaftsbescheinigung zu empfehlen.
    Allerdings wäre auch eine telefonische oder sonstige mündliche Mitteilung oder die Mitteilung durch einen Boten ausreichend. Entscheidend ist allerdings der Zugang der Mitteilung und im Streitfalle der Nachweis des Zugangs.

4. Risiko der Übermittlung

    Das Risiko der Übermittlung trägt die schwangere Mitarbeiterin. Sie muß dafür sorgen, daß ihre mündliche, oder besser schriftliche, Mitteilung rechtzeitig bzw. unverzüglich beim Arbeitgeber angelangt. Im Streitfall muß sie auch den Zugang der Mitteilung beim Arbeitgeber beweisen. Dies ist bei einem einfachen Brief sehr schwierig.
    Vorliegend hat Yoko Uno ihren Lebensgefährten Alfred als Zeugen für den rechtzeitigen Einwurf des Briefes nebst Schwangerschaftsattest am 18.8.2002 in den Briefkasten benannt. Dies ist sehr risikobehaftet, da die Glaubwürdigkeit des Zeugen angezweifelt werden könnte.
    Alfred hat ein eigenes Interesse an der Unwirksamkeit der Kündigung seiner Lebensgefährtin. Für den Fall der Wirksamkeit der Kündigung verlöre er eine arbeitende und Einkommen erzielende Partnerin. Außerdem steht er Yoko als fürsorglicher Partner sehr nahe.
    Die Gerichte haben dem Lebensgefährten Alfred trotz dieser objektiven Bedenken an seiner Glaubwürdigkeit geglaubt und zugunsten von Yoko Uno angenommen, daß der Brief tatsächlich am 18.8.2002 in den Briefkasten gelangt.
    Nun berief sich Arbeitgeber Gotthilf aber darauf, daß der Brief gleichwohl nicht angekommen war.
    Wer trägt dieses Post-Risiko?

5. Nicht zu vertretender Grund

    Die Arbeitnehmerin muß spätestens binnen 2 Wochen nach Zugang der Kündigung ihre Schwangerschaft dem Arbeitgeber mitteilen. Das Überschreiten der 2-Wochen-Frist in unschädlich, wenn es auf einem von der Frau nicht zu vertretenden Grund beruht und die Mitteilung unverzüglich nachgeholt wird.
    Das Bundesarbeitsgericht hat angenommen, daß Yoko Uno mit ihrem Brief vom 18.8.2002 die Schwangerschaftsbescheinigung rechtzeitig an den Arbeitgeber abgesandt hat. Das hatte Lebensgefährte Alfred glaubhaft vor dem Arbeitsgericht bekundet. Daß der Brief möglicherweise dann beim Arbeitgeber Gotthilf Schiffer nicht angekommen ist, könne der Mitarbeiterin nicht angelastet werden. Sie habe zunächst auf die ordnungsgemäße Beförderung ihrer Briefsendung durch die Post vertrauen dürfen.
    Es gibt auch keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, daß Yoko Uno in der Zeit zwischen dem 18.8. und dem 22.9.2002 hätte bemerken müssen, daß die Schwangerschaftsmitteilung bei Gotthilf nicht angekommen ist. Dies hat Yoko erst in dem Telefonat vom 22.9.2002 erfahren. Daraufhin hat sie im gleichen Telefonat dem Arbeitgeber Gotthilf ihre Schwangerschaft mitgeteilt. Mit dieser Reaktion war ihre Unterrichtung am 22.9.2002 nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts noch rechtzeitig dem Arbeitgeber zugegangen.
    Im Ergebnis ist somit die Kündigung wegen Verstoßes gegen § 9 Abs. 1 MuSchG rechtsunwirksam.
    Achtung: Ein anderes Ergebnis würde erzielt, wenn das Arbeitsgericht dem fürsorglichen Alfred nicht glauben würde! Das ist das Risiko der schwangeren Arbeitnehmerin.

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Textübernahmen aus den Arbeitsrechtsfolgen von Hans Gottlob Rühle:
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Stichwort-Überblick über die Arbeitsrechts-Folgen:

Abmahnung, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, Arbeitszeugnis, Assessment-Center, Ausgleichsquittung, Beendigungsvergleich, Befristungsrecht, Berufsschulunterricht, Betriebliche Altersversorgung (Entgeltumwandlung, “Riester-Rente”), Betriebliche Mitarbeiterkontrollen, Betriebsausflug, Bewerbungsgespräch, Bewerbungskosten, Bewerbungsurlaub, Dumpinglöhne/Lohnwucher, Ein-Euro-Job, Einstellungsuntersuchung, Elternzeitgesetz, Ethik-Regeln, Erziehungsurlaub/-geld, Gebetspausen, Gehaltsüberzahlung, Geldbußen-Erstattung, Gentest, Gleichbehandlung: (Bewerberauswahl, Gewerbeordnung (neue Regelung), Lohn, Nichteheliche Lebensverhältnisse, Stellenausschreibung), Hartz IV, Kündigung: (Kündigung - was tun? Alkoholmißbrauch, Unzeit, Kleinbetriebe, Kopftuchtragen, Privattelefonate/SMS, Internetnutzung, Schlechtleistung, Schriftform, Sittenwidrige Vergütung, Sperrzeitprobleme, Wiedereinstellungsanspruch, Diebstahl, Schwangerschaft), Kündigungsrecht 2004 (Neuer Abfindungsanspruch, Sozialauswahl, Klagefrist), Lohngrundsätze, Mobbing, Nebentätigkeitsverbot, Psychologisches Gutachten, Rauchverbot/Nichtraucherschutz, Sperrzeit, Teilzeitarbeit (TzBfG), Schwerbehindertenschutz, Videoüberwachung, Weihnachtsgeld (Rückzahlungspflicht)
  

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Arbeitsrecht
von H.G. Rühle

Übersicht über alle bisher erschienenen Folgen:
Folge 1 - 100
Folge 101 - 200
Folge 201 - 300
Folge 301 ff.

 

Folgenübersicht:

1 - 12:
Freie Bewerberauswahl?
Einstellungsuntersuchung Erkundigungen Bewerbungsurlaub
Bewerbungskosten
Zulässige/unzul. Fragen i. Vorstellungsgespräch

13 - 24:
Psych. Gutachten
Gentest
Assessment Center
Neues Befristungsrecht / Teilzeitarbeit (TzBfG)

25 - 36:
Forts. Befristungsrecht / Teilzeitarbeit (TzBfG)
Neues im Erziehungsrecht

37 - 48:
Berufsschule/Freistellung
Dumpinglöhne
Kündigung/soz. Aspekte
Mobbing

49 - 60:
Das Arbeitszeugnis
Zeugnisgrundsätze
Zeugnissprache
Zeugnisbenotung
Zeugnisformulierung

61 - 72:
Kündigung/Kopftuchtragen
Blutuntersuchungen

73 - 84:
Abmahnung
Andere Sanktionen

85 - 96:
Betriebl. Altersversorgung
Betriebsrente
“Riester-Rente”
Entgeltumwandlung

97 - 108:
Forts. “Riester-Rente”
Weihnachtsgratifikation
Kündigung/Schwangersch.
Gebetspausen
Krankheitsvertretung

109 - 120:
Lohngrundsätze I-V
Nebentätigkeitsverbot
Mobbing I-VI

121 - 132:
Kündigung - was tun?
Checkliste

133 - 144:
Kündigung - was tun?
Soll ich klagen?
Wer kann mich beraten?
Wie soll ich klagen?

145 - 156:
Neues Kündigungsrecht 2004

157 - 168:
Neues Kündigungsrecht
Sozialauswahl
Klagefrist
Neuregelung TzBfG

169 - 180:
Hartz IV
Ein-Euro-Job

181-192:
Ein-Euro-Job Forts.
Ausgleichsquittung /
unzulässiger Lohnverzicht

193 - 204:
Betriebsausflug
Elternzeit
Betriebsübergang

205 - 216:
Betriebliche Mitarbeiterkontrollen
Videoüberwachung
Schwerbehindertenschutz

217 - 228:
Neue Gewerbeordnung
Gebetspausen

228 - 240:
Neue Sperrzeitprobleme
Beendigungsvergleich

241 - 252
Ethik-Regeln I-XII

253 - 264
Hitzeregelungen
Internetnutzung (Kündigung)

265 - 276
Nebentätigkeiten
Arbeit auf Abruf

277 - 288
Arbeitslosengeld - Sperrfrist
Neues Elternzeitgesetz / Elterngeld

289 - 300
Arbeitsrechtliche Schwellenwerte
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

301 - 312
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

313 - 323
Sittenwidrige Vergütung

324 - 335
Schutz der behinderten Menschen

336 - 347
Schutz der behinderten Menschen
Annahmeverzug