Folge 61: Kündigungsrecht bei Kopftuchtragen?
Der Fall
Fatima arbeitete seit Jahren ohne Probleme im einzigen Kaufhaus einer Kleinstadt mit ländlichem Einzugsbereich als Verkäuferin.
Als Fatima nach 3 Jahren Erziehungsurlaub (Elternzeit) an den Arbeitsplatz zurückkehrt, trägt sie ein Kopftuch, das sie auch im Kaufhaus nicht abnimmt. Nach Bemerkungen von Kunden fordert Arbeitgeber Gottfried
die Verkäuferin Fatima mehrfach auf, an der Arbeit das Kopftuch abzunehmen. Fatima verweigert sich aus religiösen Gründen strikt und beruft sich auf ihr Recht zur freien Religionsausübung.
Nun kündigt Gottfried das Arbeitsverhältnis. Fatima klagt dagegen. Wer gewinnt?
Die Lösung
1. Vertragliche Pflicht
Nach Beendigung ihres Erziehungsurlaubs war Fatima verpflichtet, ihre Arbeit als Verkäuferin im Kaufhaus der Beklagten aufgrund des Arbeitsvertrages der
Parteien und nach dessen Inhalt fortzusetzen. Zu den vertraglichen Nebenpflichten von Fatima gehörte es, sich hinsichtlich ihrer äußeren persönlichen Erscheinung in den Rahmen einzuordnen, der im Kaufhaus des
Gottfried als betriebliche Übung allseits akzeptiert und praktiziert wurde und wird. Danach kleidet sich das Verkaufspersonal ohne auffällige, provozierende, ungewöhnliche oder fremdartige Akzente und entspricht
damit einer “ungeschriebenen”, vom Arbeitgeber aber erkennbar erwarteten “Kleiderordnung”. Diese ist auch ohne eine “spezifische Klausel im Arbeitsvertrag” dessen inhaltlicher Bestandteil und trägt berechtigten
Interessen des Arbeitgebers Rechnung.
2. Rücksicht auf Verkehrssitte
Alle Arbeitnehmer sind überdies nach Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte verpflichtet, ihr Äußeres den Gegebenheiten des
Arbeitsverhältnisses anzupassen. Aufgrund des Arbeitsvertrages ist die Arbeitnehmerin zur Einordnung, d.h. zur Übernahme einer durch den Arbeitsvertrag festgelegten Funktion innerhalb eines fremden Arbeits- oder
Lebensbereichs verpflichtet; sie schuldet daher ein Gesamtverhalten, das darauf gerichtet ist, nach Maßgabe der von ihm übernommenen Funktion die berechtigten Interessen des Arbeitgebers nicht zu schädigen und im
Rahmen des Zumutbaren wahrzunehmen”. Dies gilt besonders dann, wenn der Arbeitgeber – wie im vorliegenden Fall – auf Kunden und deren Vorstellungen Rücksicht zu nehmen hat und unter anderem durch die äußere
Erscheinung seines Personals “eine Aussage über Image, Stil und Trend des Unternehmens” treffen will.
3. Personenbedingte Kündigung
Fatima beruft sich bei ihrer Weigerung, die Anweisung des Arbeitgebers zu beachten, auf die von Art. 4 Abs. 1 GG für alle Menschen als unverletzlich
anerkannte Freiheit des Glaubens, des Gewissens und des religiösen Bekenntnisses. Dabei handelt es sich um einen Rechtfertigungsgrund, der eine verhaltensbedingte Kündigung ausschließt. Kommt er zum Tragen, so ist
Fatima im Sinne des § 297 BGB jedoch dauernd außer Stande, ihre vertragliche Pflicht zu erfüllen, so daß ein an ihre Person gebundenes dauerndes Beschäftigungshindernis besteht. Kann dieses im Betrieb der Beklagten
im Rahmen der dort gegebenen betrieblichen Möglichkeiten nicht ausgeräumt werden, so ist die Kündigung als personenbedingte Kündigung gem. § 1 Abs. 2 Kündigungsschutzgesetz sozial gerechtfertigt.
4. Glaubens- und Bekenntnisfreiheit
Inhaltlich umfaßt die Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 GG auch die Freiheit, das Verhalten nach den Geboten des Glaubens
auszurichten. Geschützt ist danach jedes Verhalten, das sich als ein Bekenntnisakt darstellt, unabhängig davon, ob es generell als Erfüllung einer religiösen Pflicht erscheint oder lediglich einer religiösen
Tradition oder einem religiösen Brauch Ausdruck verleiht. Der der Klägerin nach Art. 4 Abs. 1 GG somit zur Seite stehende Grundrechtsschutz ist wegen der mittelbaren “Dritt- oder Ausstrahlungswirkung” der
Grundrechte vom Arbeitgeber bei der Ausübung seines Direktionsrechts zu beachten. Andererseits kann sich Arbeitgeber Gottfried seinerseits auch auf Grundrechte berufen, die mit dem der Klägerin notwendig in einem
Spannungsverhältnis stehen. Seine Erwerbstätigkeit wird nämlich von Art. 2 Abs. 1, 12 GG, das “Erworbene” in Gestalt seines Eigentums durch Art. 14 GG geschützt. Deshalb kann Fatima auch von Gottfried nicht
verlangen, daß sie probeweise Kopftuch tragend beschäftigt wird, um die Reaktion der anderen Mitarbeiter und diejenigen der Kunden herauszufinden. Dadurch würde sowohl die geschützte Erwerbstätigkeit des
Arbeitgebers, als auch sein Eigentum beeinträchtigt. Denn es würde ihm zugemutet, eine einseitige Vertragsänderung zugunsten der Fatima hinzunehmen, die sich innerbetrieblich, d.h. im Eigentumsbereich, durch
personelle Konflikte und Störungen des Betriebsablaufs und wirtschaftlich durch eine schädliche Entfremdung des Kundenkreises, d.h. im Erwerbsbereich, negativ auswirken kann.
5. Grenzen der Glaubensfreiheit
Die Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit wird durch Art. 4 Abs. 1 GG “nicht schrankenlos gewährleistet”. Die Grundrechtspositionen der Parteien
stehen sich gleichrangig gegenüber. Ihr Ausgleich muß nach Möglichkeit aufgrund des Prinzips der Toleranz und der praktischen Konkordanz gesucht werden. Fatima könnte sich gegen Gottfried nur dann mit dem
Kopftuch durchsetzen, wenn ihr durch Gottfried eine Arbeit zugewiesen werden könnte, bei der das Kopftuchtragen sich nicht negativ auf die gleichrangigen Rechte des Arbeitgebers auswirken würde. Eine solche
Einsatzmöglichkeit war für Fatima als Verkäuferin zur Kündigungszeit nicht vorhanden. Im Verkauf hat sie stets Kundenkontakt.
6. Lösung
Aufgrund der bestehenden Glaubens- und Bekenntnisfreiheit kann Fatima nicht zugemutet werden, auf das religiös begründete Tragen des Kopftuches zu
verzichten, auch wenn Gottfried als Verkäuferin tätig ist und ihren Arbeitsvertrag erfüllt. Andererseits müssen die Grundrechte des Arbeitgebers beachtet werden. Dieser Konflikt kann nur durch eine
fristgerechte Auflösung des Arbeitsverhältnisses erreicht werden, da ein Ausgleich innerhalb des Arbeitsverhältnisses selbst dauerhaft nicht möglich ist. Dies durfte durch eine Kündigung des Arbeitsverhältnisses
geschehen. Der Arbeitgeber muß die nach Jahren ungestörter Arbeit nun veränderte religiöse Haltung von Fatima nicht zu seinen Lasten hinnehmen. Die ausgesprochene Kündigung ist sozial gerechtfertigt (so HessLAG
vom 21.6.2001 - 3 Sa 1448/00).
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