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Arbeitsrecht von Hans Gottlob Rühle

 

Hans Gottlob RühleHans Gottlob Rühle,
Richter am Arbeitsgericht Gießen,
Direktor des Arbeitsgerichts Marburg a.D.,
gibt Praxistips rund um das Thema Bewerbung und Arbeitsrecht.

 

Folge 39: Kündigung zur Unzeit?

Die Kündigung kann einen Arbeitnehmer sehr hart treffen. Unabhängig von der Frage der allgemeinen sozialen Rechtfertigung ist es besonders hart, wenn die Kündigung mit persönlichen Tiefs oder Katastrophen zusammentrifft.

Der Fall:

    Die 35jährige Florence Nightingale war beim Arzt Charles Dickens als Arzthelferin seit dem 1.1.2001 beschäftigt. Dickens beschäftigte daneben schon 2 Arzthelferinnen seit ca. 20 Jahren. Die Neueinstellung nahm er vor, weil er mit einem Patientenzustrom aufgrund eines neuen medizinischen Gerätes rechnete.
    Florence Nightingale verlor ihren Lebensgefährten Oscar Wilde durch Aids nach schwerem Leidenskampf. Er starb im Klinikum am 15.8.2001. Am 20.10.2001 ertrank auch noch ihr jüngstes Kind.
    Arbeitgeber Dickens hatte den zukünftigen Arbeitskräftebedarf bei der Einstellung von Florence Nightingale falsch eingeschätzt. Durch die große Konkurrenz blieb der erwartete Aufschwung aus. Die Klägerin war vom Arbeitsanfall her überflüssig.
    Aus diesem Grunde kündigte der Arbeitgeber Charles Dickens die Arzthelferin Florence Nightingale am 28.10.2001 zum 30.11.2001. Florence brach zusammen. Sie hält diese Kündigung für sozial ungerechtfertigt, grausam und unwirksam.

Die Lösung:

1. Betriebsbedingte Kündigung

    Arbeitgeber Charles Dickens hat betriebsbedingte Kündigungsgründe. Angesichts des Konkurrenzkampfes und der Sparprogramme der Krankenkassen kann er sich eine überflüssige Arzthelferin auf längere Zeit nicht leisten. Der Arbeitsplatz der Klägerin war durch die Fehleinschätzung des Arbeitgebers weggefallen bzw. tatsächlich nie vorhanden.

2. Sozialauswahl

    Florence Nightingale kann gegen die Sozialauswahl von Dickens nichts einwenden. Von den 3 beschäftigten Arzthelferinnen ist sie am Kürzesten beschäftigt. Die anderen beiden Kolleginnen sind schon über 20 Jahre tätig. Der Arbeitgeber hätte vor dem Arbeitsgericht leicht Probleme, diese langgedienten Arbeitnehmerinnen zu kündigen.

3. Kündigungsschutzgesetz?

    Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet das Kündigungsschutzgesetz keine Anwendung.
    Zwar gilt das Kündigungsschutzgesetz nach § 1 Abs. 1 KSchG dann, wenn ein Arbeitnehmer länger als 6 Monate beschäftigt ist. Diese Voraussetzung erfüllt Florence Nightingale. Darüber hinaus muß sie jedoch nach § 23 Abs. 1 KSchG im Betrieb des Arbeitgebers eine Beschäftigtenzahl von mehr als 55 Arbeitnehmer vorliegen. Dies war nicht der Fall.
    Achtung: Selbst wenn das Kündigungsschutzgesetz gelten würde, wäre die Kündigung sozial gerechtfertigt. Nach § 1 Abs. 2 KSchG darf der Arbeitgeber Dickens bei Vorliegen ausreichender betrieblicher Gründe das Arbeitsverhältnis kündigen. Auch die Sozialauswahl ist nicht zu beanstanden.

4. Sonderkündigungsschutz?

    Neben dem Kündigungsgesetz gibt es andere gesetzliche und tarifliche Sonderkündigungsvorschriften, die bestimmten Arbeitnehmern einen besonderen Kündigungsschutz verschaffen. Dazu gehört z.B. das Mutterschutzgesetz zugunsten von Schwangeren, das Schwerbehindertengesetz, der besondere Kündigungsschutz in der Elternzeit nach dem Erziehungsurlaubsgesetz, der besondere Kündigungsschutz von Parlamentsmitgliedern nach der jeweiligen Gemeindeordnung oder der Kündigungsschutz der Betriebs- und Personalräte.
    Tarifverträge können einen besonderen Kündigungsschutz für langgediente Arbeitnehmer vorsehen, die z.B. nach 15 oder 20 Jahren nicht mehr ordentlich gekündigt werden dürfen.
    Darüber hinaus gibt es aber keinen besonderen Kündigungsschutz für Arbeitnehmer wegen des Todes eines nahen Angehörigen, eines Ehegatten oder Lebensgefährten. Es ist klar, daß die zur “Unzeit” ausgesprochene Kündigung des Arbeitsverhältnisses einen Arbeitnehmer gerade dann besonders belasten kann, wenn er von einem Schicksalsschlag getroffen worden ist. Dies gilt allerdings auch dann, wenn er z.B. massiv erkrankt ist. Gleichwohl hat der Gesetzgeber die krankheitsbedingten Kündigung ausdrücklich zugelassen.

5. Kündigung zur Unzeit?

    Die Kündigung der Florence Nightingale durch Charles Dickens erfolgte sicherlich “zur Unzeit”. Eine solche “Unzeit” der Kündigung alleine führt jedoch regelmäßig nicht zu deren Unwirksamkeit. Nur in Ausnahmefällen kann eine besonders belastende Kündigung durch den Arbeitgeber treuewidrig und damit rechtsunwirksam sein.
    Die Annahme der Treu- bzw. Sittenwidrigkeit einer Kündigung setzt über den Zeitpunkt der Kündigung weitere Umstände voraus:
    Der Arbeitgeber muß z.B. beabsichtigen, den Arbeitnehmer durch die Kündigung zu diesem Zeitpunkt besonders schwer zu treffen und psychisch zu zerstören oder es muß eine andere Bösartigkeit vorliegen, die neben dem Zeitpunkt vom Arbeitgeber mit der Kündigung noch beabsichtigt wird.

6. Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts

    Das Bundesarbeitsgericht hat in der Entscheidung vom 5.4.2001 (AZR 185 aus 2000) in einem vergleichbaren Fall die Kündigung trotz der Schicksalsschläge für wirksam erklärt. Es hat ausgeführt, daß die Umstände, die Florence Nightingale getroffen haben, nicht ausreichen, um eine besonders treuewidrige oder sittenwidrige Kündigung zu bejahen. Das Arbeitsverhältnis hat erst kurze Zeit bestanden. Der Arbeitgeber Dickens hatte aus sachlichen Gründen gekündigt. Er hatte nicht beabsichtigt, seine Arzthelferin darüber hinaus in ihrem Persönlichkeitsrecht, ihrer Gesundheit und Psyche zu beeinträchtigen. Der Zeitpunkt der Kündigung war auch nicht willkürlich vom Arbeitgeber gewählt. Es ist ihm vielmehr nicht zuzumuten, wegen der persönlichen Schicksalsschläge der Klägerin die Beschäftigungsdauer noch über Monate hin auszudehnen, ohne Arbeit für sie zu besitzen.

7. Checkliste

  • Gilt das Kündigungsschutzgesetz?
    a) mehr als 5 Arbeitnehmer und
    b) länger als 6 Monate beschäftigt
  • Kündigung zur Unzeit möglich, wenn sachliche Gründe
  • Sonderkündigungsschutz? Prüfen!
  • Kündigung mit dem Ziel der Zerstörung der materiellen / psychischen Existenz des Arbeitnehmers unzulässig
  • Sittenwidrige Kündigung ist nichtig. Nur in seltenen Ausnahmefällen gegeben
  • Arbeitnehmer trägt für die Behauptung der Sittenwidrigkeit, Schikane etc. die Beweislast. Das schafft Probleme.

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Textübernahmen aus den Arbeitsrechtsfolgen von Hans Gottlob Rühle:
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Stichwort-Überblick über die Arbeitsrechts-Folgen:

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Arbeitsrecht
von H.G. Rühle

Übersicht über alle bisher erschienenen Folgen:
Folge 1 - 100
Folge 101 - 200
Folge 201 - 300
Folge 301 ff.

 

Folgenübersicht:

1 - 12:
Freie Bewerberauswahl?
Einstellungsuntersuchung Erkundigungen Bewerbungsurlaub
Bewerbungskosten
Zulässige/unzul. Fragen i. Vorstellungsgespräch

13 - 24:
Psych. Gutachten
Gentest
Assessment Center
Neues Befristungsrecht / Teilzeitarbeit (TzBfG)

25 - 36:
Forts. Befristungsrecht / Teilzeitarbeit (TzBfG)
Neues im Erziehungsrecht

37 - 48:
Berufsschule/Freistellung
Dumpinglöhne
Kündigung/soz. Aspekte
Mobbing

49 - 60:
Das Arbeitszeugnis
Zeugnisgrundsätze
Zeugnissprache
Zeugnisbenotung
Zeugnisformulierung

61 - 72:
Kündigung/Kopftuchtragen
Blutuntersuchungen

73 - 84:
Abmahnung
Andere Sanktionen

85 - 96:
Betriebl. Altersversorgung
Betriebsrente
“Riester-Rente”
Entgeltumwandlung

97 - 108:
Forts. “Riester-Rente”
Weihnachtsgratifikation
Kündigung/Schwangersch.
Gebetspausen
Krankheitsvertretung

109 - 120:
Lohngrundsätze I-V
Nebentätigkeitsverbot
Mobbing I-VI

121 - 132:
Kündigung - was tun?
Checkliste

133 - 144:
Kündigung - was tun?
Soll ich klagen?
Wer kann mich beraten?
Wie soll ich klagen?

145 - 156:
Neues Kündigungsrecht 2004

157 - 168:
Neues Kündigungsrecht
Sozialauswahl
Klagefrist
Neuregelung TzBfG

169 - 180:
Hartz IV
Ein-Euro-Job

181-192:
Ein-Euro-Job Forts.
Ausgleichsquittung /
unzulässiger Lohnverzicht

193 - 204:
Betriebsausflug
Elternzeit
Betriebsübergang

205 - 216:
Betriebliche Mitarbeiterkontrollen
Videoüberwachung
Schwerbehindertenschutz

217 - 228:
Neue Gewerbeordnung
Gebetspausen

228 - 240:
Neue Sperrzeitprobleme
Beendigungsvergleich

241 - 252
Ethik-Regeln I-XII

253 - 264
Hitzeregelungen
Internetnutzung (Kündigung)

265 - 276
Nebentätigkeiten
Arbeit auf Abruf

277 - 288
Arbeitslosengeld - Sperrfrist
Neues Elternzeitgesetz / Elterngeld

289 - 300
Arbeitsrechtliche Schwellenwerte
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

301 - 312
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

313 - 323
Sittenwidrige Vergütung

324 - 335
Schutz der behinderten Menschen

336 - 347
Schutz der behinderten Menschen
Annahmeverzug