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Arbeitsrecht von Hans Gottlob Rühle

 

Hans Gottlob RühleHans Gottlob Rühle,
Richter am Arbeitsgericht Gießen,
Direktor des Arbeitsgerichts Marburg a.D.,
gibt Praxistips rund um das Thema Bewerbung und Arbeitsrecht.

 

Folge 315: Sittenwidrige Vergütung III
- Beispiele (1) -

Frage:

Jeder niedrig bezahlte Arbeitnehmer oder Geringbeschäftigte, aber auch viele Arbeitgeber fragen sich zu Recht, wo nun eigentlich die Grenze zwischen einem sittenwidrigen und einem zulässigen Lohn liegen. Wann kann ich zum Arbeitgeber gehen und ihn darauf hinweisen, daß er sich in die Gefahr begibt, wegen Lohnwuchers vielleicht bestraft zu werden?

Der Fall:

    Musikalienunternehmer Arnold Schönberg muß unbedingt seinen Notenkeller entrümpeln lassen. Außerdem will er das Altpapier beim Altwarenhändler Anselm Feuerbach noch zu Geld machen.
    Schönberg stellt deshalb zur Entrümpelung die arbeitslosen Musikfreunde Clara Schumann und Maurice Chevalier ein. Er vereinbart mit ihnen folgendes:
    Für jeweils 500 kg Noten, aus dem Keller geschafft, gebündelt und zum Altwarenhändler Anselm Feuerbach im Leiterwagen gefahren, bekommen beide eine Arbeitsstunde verrechnet, die mit 10 Euro brutto angesetzt wird. Schönberg schätzt, daß 500 kg Noten in einer Stunde entrümpelt und weggebracht werden können.
    Die zierliche Clara schafft aufgrund ihrer schwächeren körperlichen Verfassung wie500 kg einschließlich Transport in 4 Stunden. Maurice Chevalier dagegen packt zu und schafft die Menge in 2 Stunden. Beide aber meinen, daß ein Stundenlohn von 2,50 Euro brutto bzw. 5 Euro brutto sittenwidrig sei.

Die Lösung:

1. Allgemeine Grundsätze

    Eine arbeitsvertragliche Entgeltvereinbarung verstößt gegen den Wuchertatbestand oder die Guten Sitten, wenn ein auffälliges Mißverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung vorliegt und die Vereinbarung nach Inhalt und Zwecksetzung gegen das Anstandsgefühl verstößt. Insbesondere liegt Lohnwucher vor, wenn die Zwangslage eines Arbeitnehmers oder dessen Unerfahrenheit und Mangel an Urteilsvermögen ausgebeutet oder ausgenutzt wird.
    Dabei ist die Sittenwidrigkeit einer Entgeltvereinbarung nicht alleine nach der vereinbarten Entgelthöhe zu beurteilen. Es müssen vielmehr die Gesamtumstände, aber auch der Arbeitsvertrag in seiner Gesamtheit geprüft und gewertet werden.

2. Beginn der Sittenwidrigkeit

    Da das Bundesarbeitsgericht zur Bestimmung der Sittenwidrigkeit eine Gesamtbewertung der Vereinbarung bei der Prüfung zugrundelegt, kann nicht von einer allgemeinverbindlichen Prozentgrenze ausgegangen werden. Allerdings spricht ein starkes Indiz für Sittenwidrigkeit oder Lohnwucher, wenn die Vergütungshöhe 70 % bzw. 2/3 der Vergütung eines vergleichbaren branchengleich beschäftigten Arbeitnehmers unterschreitet.
    Zur Feststellung des vergleichbaren, üblichen Branchenlohnes kann der Tariflohn des jeweiligen Wirtschaftszweiges als Richtgröße herangezogen werden. Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Tariflohn in diesem Wirtschaftsgebiet üblicherweise gezahlt wird.
    Entspricht der Tariflohn nicht der verkehrsüblichen Vergütung, liegt das allgemeine Lohnniveau vielmehr unter Tarif, so ist bei der Ermittlung des Wertes der Arbeitsleistung von diesem allgemeinen niedrigeren Lohnniveau auszugehen.
    Beträgt der vereinbarte oder tatsächlich gezahlte Lohn dann weniger als 70 % bzw. 2/3 dieses Lohnniveaus, so befindet sich der Arbeitgeber mit seiner Lohnzahlung im kritischen Bereich.
    Aus den Gesamtumständen kann sich aber auch ergeben, daß die Grenze höher liegt. So hat das Bundesarbeitsgericht im Falle der Ersatzschulen entschieden, daß eine Lehrerbesoldung, die unter 75 % der Vergütung vergleichbarer Lehrkräfte an anderen Schulen liegt, sittenwidrig sei.

3. Auskömmliches Einkommen?

In der Diskussion wird immer wieder die Frage aufgeworfen, ob ein Lohn dann sittenwidrig ist, wenn trotz Vollzeitbeschäftigung ein auskömmliches Einkommen nicht erzielt werden kann, wenn also ein Vollzeitarbeitnehmer seine Familie nicht mehr ernähren kann.
Diese Frage ist bisher höchstrichterlich noch nicht entschieden worden. Der Ansatz ist möglicherweise auch falsch, da die Familien unterschiedlich groß sein können und die Frage der Bedürfnisse und des auskömmlichen Einkommens individuell höchst unterschiedlich beurteilt werden.
Schließlich ist eine Vergütung nur dann nach § 138 BGB sittenwidrig, wenn das Entgelt mit der erbrachten Arbeitsleistung in einem groben Mißverhältnis steht. Bei dieser Beurteilung hat der Gesetzgeber nicht auf die Lebenshaltungskosten abgestellt. Es ist deshalb vor einer solchen Argumentation zu warnen.

4. Sozialhilfeniveau/Hartz IV

    Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts kann zur Feststellung eines auffälligen Mißverhältnisses zwischen Leistung und Gegenleistung nicht auf einen bestimmten Abstand zwischen dem Arbeitsentgelt und dem Sozialhilfesatz oder dem Hartz IV-Satz abgestellt werden. Ob das vom Arbeitgeber für eine bestimmte Tätigkeit entrichtete Arbeitsentgelt in einem krassen Mißverhältnis zur erbrachten Arbeitsleistung steht, hängt vom Wert der Arbeitsleistung und nicht von den Ansprüchen aus Hartz IV oder von der Sozialhilfe ab.
    Die Sozialhilfe und Hartz IV knüpfen an eine wirtschaftliche Bedürfnislage an mit anderen Faktoren, als das Arbeitsentgelt.
    Ebenso wenig kann nach der BAG-Rechtsprechung aus den Pfändungsgrenzen des § 850 c ZPO auf ein Mißverhältnis zwischen der Leistung und Gegenleistung im Arbeitsverhältnis geschlossen werden. Die Vorschriften des Pfändungsschutzes bezwecken den Schutz des Schuldners vor einer Kahlpfändung und sollen dem Arbeitnehmer ein menschenwürdiges Leben trotz einer Lohnpfändung ermöglichen. Beim Pfändungsschutz bleibt deshalb der Wert der Arbeitsleistung an sich unberücksichtigt.

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Stichwort-Überblick über die Arbeitsrechts-Folgen:

Abmahnung, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, Arbeitszeugnis, Assessment-Center, Ausgleichsquittung, Beendigungsvergleich, Befristungsrecht, Berufsschulunterricht, Betriebliche Altersversorgung (Entgeltumwandlung, “Riester-Rente”), Betriebliche Mitarbeiterkontrollen, Betriebsausflug, Bewerbungsgespräch, Bewerbungskosten, Bewerbungsurlaub, Dumpinglöhne/Lohnwucher, Ein-Euro-Job, Einstellungsuntersuchung, Elternzeitgesetz, Ethik-Regeln, Erziehungsurlaub/-geld, Gebetspausen, Gehaltsüberzahlung, Geldbußen-Erstattung, Gentest, Gleichbehandlung: (Bewerberauswahl, Gewerbeordnung (neue Regelung), Lohn, Nichteheliche Lebensverhältnisse, Stellenausschreibung), Hartz IV, Kündigung: (Kündigung - was tun? Alkoholmißbrauch, Unzeit, Kleinbetriebe, Kopftuchtragen, Privattelefonate/SMS, Internetnutzung, Schlechtleistung, Schriftform, Sittenwidrige Vergütung, Sperrzeitprobleme, Wiedereinstellungsanspruch, Diebstahl, Schwangerschaft), Kündigungsrecht 2004 (Neuer Abfindungsanspruch, Sozialauswahl, Klagefrist), Lohngrundsätze, Mobbing, Nebentätigkeitsverbot, Psychologisches Gutachten, Rauchverbot/Nichtraucherschutz, Sperrzeit, Teilzeitarbeit (TzBfG), Schwerbehindertenschutz, Videoüberwachung, Weihnachtsgeld (Rückzahlungspflicht)
  

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Arbeitsrecht
von H.G. Rühle

Übersicht über alle bisher erschienenen Folgen:
Folge 1 - 100
Folge 101 - 200
Folge 201 - 300
Folge 301 ff.

 

Folgenübersicht:

1 - 12:
Freie Bewerberauswahl?
Einstellungsuntersuchung Erkundigungen Bewerbungsurlaub
Bewerbungskosten
Zulässige/unzul. Fragen i. Vorstellungsgespräch

13 - 24:
Psych. Gutachten
Gentest
Assessment Center
Neues Befristungsrecht / Teilzeitarbeit (TzBfG)

25 - 36:
Forts. Befristungsrecht / Teilzeitarbeit (TzBfG)
Neues im Erziehungsrecht

37 - 48:
Berufsschule/Freistellung
Dumpinglöhne
Kündigung/soz. Aspekte
Mobbing

49 - 60:
Das Arbeitszeugnis
Zeugnisgrundsätze
Zeugnissprache
Zeugnisbenotung
Zeugnisformulierung

61 - 72:
Kündigung/Kopftuchtragen
Blutuntersuchungen

73 - 84:
Abmahnung
Andere Sanktionen

85 - 96:
Betriebl. Altersversorgung
Betriebsrente
“Riester-Rente”
Entgeltumwandlung

97 - 108:
Forts. “Riester-Rente”
Weihnachtsgratifikation
Kündigung/Schwangersch.
Gebetspausen
Krankheitsvertretung

109 - 120:
Lohngrundsätze I-V
Nebentätigkeitsverbot
Mobbing I-VI

121 - 132:
Kündigung - was tun?
Checkliste

133 - 144:
Kündigung - was tun?
Soll ich klagen?
Wer kann mich beraten?
Wie soll ich klagen?

145 - 156:
Neues Kündigungsrecht 2004

157 - 168:
Neues Kündigungsrecht
Sozialauswahl
Klagefrist
Neuregelung TzBfG

169 - 180:
Hartz IV
Ein-Euro-Job

181-192:
Ein-Euro-Job Forts.
Ausgleichsquittung /
unzulässiger Lohnverzicht

193 - 204:
Betriebsausflug
Elternzeit
Betriebsübergang

205 - 216:
Betriebliche Mitarbeiterkontrollen
Videoüberwachung
Schwerbehindertenschutz

217 - 228:
Neue Gewerbeordnung
Gebetspausen

228 - 240:
Neue Sperrzeitprobleme
Beendigungsvergleich

241 - 252
Ethik-Regeln I-XII

253 - 264
Hitzeregelungen
Internetnutzung (Kündigung)

265 - 276
Nebentätigkeiten
Arbeit auf Abruf

277 - 288
Arbeitslosengeld - Sperrfrist
Neues Elternzeitgesetz / Elterngeld

289 - 300
Arbeitsrechtliche Schwellenwerte
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

301 - 312
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

313 - 323
Sittenwidrige Vergütung

324 - 335
Schutz der behinderten Menschen

336 - 347
Schutz der behinderten Menschen
Annahmeverzug