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Arbeitsrecht von Hans Gottlob Rühle

 

Hans Gottlob RühleHans Gottlob Rühle,
Richter am Arbeitsgericht Gießen,
Direktor des Arbeitsgerichts Marburg a.D.,
gibt Praxistips rund um das Thema Bewerbung und Arbeitsrecht.

 

Folge 316: Sittenwidrige Vergütung IV
- Beispiele (2) -

Frage:

Jeder niedrig bezahlte Arbeitnehmer oder Geringbeschäftigte, aber auch viele Arbeitgeber fragen sich zu Recht, wo nun eigentlich die Grenze zwischen einem sittenwidrigen und einem zulässigen Lohn liegen. Wann kann ich zum Arbeitgeber gehen und ihn darauf hinweisen, daß er sich in die Gefahr begibt, wegen Lohnwuchers vielleicht bestraft zu werden?

Der Fall:

    Musikalienunternehmer Arnold Schönberg muß unbedingt seinen Notenkeller entrümpeln lassen. Außerdem will er das Altpapier beim Altwarenhändler Anselm Feuerbach noch zu Geld machen.
    Schönberg stellt deshalb zur Entrümpelung die arbeitslosen Musikfreunde Clara Schumann und Maurice Chevalier ein. Er vereinbart mit ihnen folgendes:
    Für jeweils 500 kg Noten, aus dem Keller geschafft, gebündelt und zum Altwarenhändler Anselm Feuerbach im Leiterwagen gefahren, bekommen beide eine Arbeitsstunde verrechnet, die mit 10 Euro brutto angesetzt wird. Schönberg schätzt, daß 500 kg Noten in einer Stunde entrümpelt und weggebracht werden können.
    Die zierliche Clara schafft aufgrund ihrer schwächeren körperlichen Verfassung wie500 kg einschließlich Transport in 4 Stunden. Maurice Chevalier dagegen packt zu und schafft die Menge in 2 Stunden. Beide aber meinen, daß ein Stundenlohn von 2,50 Euro brutto bzw. 5 Euro brutto sittenwidrig sei.

Die Lösung

1. Sittenwidrige Tarifverträge?

    Es gibt Tarifverträge mit sehr niedrigen Stundenlöhnen, z.T. mit Stundenlöhnen unter 4 Euro. Aus diesem Grunde wird immer wieder die Frage gestellt, ob nicht schon solche Tarifverträge sittenwidrig seien. Auch bei der Debatte über den Mindestlohn wird darauf verwiesen, daß ein Teil der Tarifverträge nicht akzeptable Vergütungen vorsähen.
    Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts hat bislang die Frage offen gelassen, ob normative Regelungen eines Tarifvertrages eines Tarifvertrages am Maßstab des § 138 BGB gemessen werden können und möglicherweise sittenwidrig sind.
    Die Vorschrift des § 138 BGB findet nach dem Wortlaut nur auf Rechtsgeschäfte Anwendung. Diese Vorschrift erfaßt nach seiner systematischen Stellung daher nicht normative Regelungen wie Gesetze oder den normativen Teil von Tarifverträgen.
    Allerdings muß bedacht werden, daß in § 138 BGB die elementaren Gerechtigkeitsanforderungen unserer gesamten Rechtsordnung zum Ausdruck kommen. Diese Gerechtigkeitsanforderungen sind Ausfluß von Artikel 2 Abs. 1 GG und der darin geschützten allgemeinen Handlungsfreiheit sowie des Sozialstaatsprinzips, das in Art. 20 Abs. 1 GG geregelt ist.
    Nach den Ausführungen des Bundesarbeitsgerichts müssen sich auch Tarifabschlüsse an diesen Grundsätzen und den verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen messen lassen. Andererseits aber müssen auch die Rechte der Tarifvertragsparteien aus Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz beachtet werden.
    Generell hat der Gesetzgeber mit dieser grundgesetzlichen Garantie der Tarifhoheit auch den Tarifvertragsparteien eine Richtigkeitsgewähr eingeräumt. Es ist deshalb im Allgemeinen davon auszugehen, daß die Arbeitsentgelte, die in freien Tarifverträgen ausgehandelt wurden, den Besonderheiten der Branche Rechnung tragen und wirksam sind. Dies gilt auch dann, wenn diese Löhne sehr niedrig sind.
    Eine Sittenwidrigkeit von Tariflöhnen käme nur dann in Betracht, wenn der Lohn unter Berücksichtigung aller Umstände einen nicht mehr tragbaren „Hungerlohn“ darstellt. Bisher hat aber das Bundesarbeitsgericht noch keinen Tarifvertrag in dieser Weise beanstandet.

2. Unzulässige Übertragung des Geschäftsrisikos

    Die Sittenwidrigkeit einer Vergütung kann sich insbesondere dann ergeben, wenn der Arbeitgeber im Zuge der Vergütungsvereinbarung sein Geschäfts- und Unternehmerrisiko in unzulässiger Weise auf den Arbeitnehmer überträgt und dadurch dessen Lohn in einer massiven Weise mindert.
    Dazu verschiedene Beispiele:
    – Unzulässige Verlustbeteiligung: Beteiligt der Arbeitgeber Arbeitnehmer an seinen Geschäftsverlusten oder am zurückgehenden Umsatz, indem er in diesen Fällen die Vergütung der Arbeitnehmer mindert, so liegt eine sittenwidrige Regelung jedenfalls dann vor, wenn für die Beteiligung der Arbeitnehmer am Verlust kein angemessener Ausgleich erfolgt ist.
    – Blankoabrede: Eine Beteiligung der Arbeitnehmer an Kassenfehlbeständen ist dann sittenwidrig, wenn die Mitarbeiter nicht vor einen entsprechenden Ausgleich (Mankogeld etc.) vom Arbeitgeber erhalten haben.
    – Kostenbeteiligung: Vereinbarungen, wonach Arbeitnehmer an zukünftig entstehenden zusätzlichen Lohnkosten (Lohnnebenkosten) oder an der Steigerung der Betriebskosten, der Energiepreise, der Erhöhung der Rohstoffpreise etc. beteiligt werden, sind ohne finanziellen Ausgleich ebenfalls in der Regel sittenwidrig.
    – Beteiligung an Außenständen: Vereinbarungen, wonach der Lohn sich bei Mindereinnahmen des Arbeitgebers reduziert, insbesondere bei Zahlungsschwierigkeiten von Kunden, bei nichtbeglichenen Außenständen etc. können ebenfalls sittenwidrig sein.
    – Beteiligung am Geschäftsrisiko: Vereinbarungen über Lohnkürzungen bei ausbleibenden Aufträgen oder bei einem Absinken der Gewinnspannen können ebenfalls sittenwidrig sein. Das gilt jedenfalls dann, wenn davon die Grundvergütung betroffen ist.

3. Arbeitsmenge / Notenkeller

    Die Orientierung des Lohnes alleine an der Arbeitsmenge kann im Einzelfall ebenfalls problematisch sein.
    Zwar ist die Orientierung an der Arbeitsmenge im Bereich des Akkordlohnes völlig unproblematisch. Dabei liegen allerdings Messungen und Prüfungen einschließlich der Mitbestimmung des Betriebsrats vor, die in der Regel für einen auskömmlichen und gerechten Lohn sorgen.
    Sollte die Orientierung an der Arbeitsmenge so sein, daß ein auskömmlicher Lohn von Anfang an kaum möglich ist, könnte hier auch Lohnwucher vorliegen. Dies gilt vor allem im Falle der Clara Schumann.

4. Regaleinräumer

    Mittlerweile ist der Erfindungsreichtum der Wirtschaft so weit gediehen, die Arbeitsleistung nicht mehr an der Arbeitszeit, sondern von anderen Faktoren abhängig zu machen. Soweit es sich hier um faire Regelungen handelt und soweit der Arbeitnehmer seine Arbeitsmenge und seine Arbeitsleistung in erster Linie selbst beeinflussen oder bestimmen kann, sind solche Regelungen von der Rechtsprechung nicht beanstandet worden (z. Beispiel Akkordlohn)
    Sollte allerdings die Lohnhöhe sich nach der Arbeitsmenge bestimmen und der Arbeitnehmer die angebotene und zu verarbeitende Arbeitsmenge nicht mehr beeinflussen können, so bewegen sich solche Vergütungsmodelle in einem kritischen Bereich.
    Die Tätigkeit der Regaleinräumer im Handel z.B. orientiert sich an einer in die Regale einzuräumenden Warenmenge, die der einzelne Mitarbeiter nicht mehr beeinflussen kann. Sowohl Arbeitsgeschwindigkeit wie auch Arbeitsmenge hängen – im Gegensatz zur Akkordarbeit – nicht mehr vom Arbeitnehmer alleine ab, sondern auch von den zur Verfügung gestellten Waren, ihrem Gewicht und ihrem Wert, wie auch von der Menge der Waren.
    Diese neuen Lohnformen müssen von der Rechtsprechung noch genau geprüft und beurteilt werden, sind aber bedenklich in den jetzt geübten Formen.

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Textübernahmen aus den Arbeitsrechtsfolgen von Hans Gottlob Rühle:
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Stichwort-Überblick über die Arbeitsrechts-Folgen:

Abmahnung, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, Arbeitszeugnis, Assessment-Center, Ausgleichsquittung, Beendigungsvergleich, Befristungsrecht, Berufsschulunterricht, Betriebliche Altersversorgung (Entgeltumwandlung, “Riester-Rente”), Betriebliche Mitarbeiterkontrollen, Betriebsausflug, Bewerbungsgespräch, Bewerbungskosten, Bewerbungsurlaub, Dumpinglöhne/Lohnwucher, Ein-Euro-Job, Einstellungsuntersuchung, Elternzeitgesetz, Ethik-Regeln, Erziehungsurlaub/-geld, Gebetspausen, Gehaltsüberzahlung, Geldbußen-Erstattung, Gentest, Gleichbehandlung: (Bewerberauswahl, Gewerbeordnung (neue Regelung), Lohn, Nichteheliche Lebensverhältnisse, Stellenausschreibung), Hartz IV, Kündigung: (Kündigung - was tun? Alkoholmißbrauch, Unzeit, Kleinbetriebe, Kopftuchtragen, Privattelefonate/SMS, Internetnutzung, Schlechtleistung, Schriftform, Sittenwidrige Vergütung, Sperrzeitprobleme, Wiedereinstellungsanspruch, Diebstahl, Schwangerschaft), Kündigungsrecht 2004 (Neuer Abfindungsanspruch, Sozialauswahl, Klagefrist), Lohngrundsätze, Mobbing, Nebentätigkeitsverbot, Psychologisches Gutachten, Rauchverbot/Nichtraucherschutz, Sperrzeit, Teilzeitarbeit (TzBfG), Schwerbehindertenschutz, Videoüberwachung, Weihnachtsgeld (Rückzahlungspflicht)
  

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Arbeitsrecht
von H.G. Rühle

Übersicht über alle bisher erschienenen Folgen:
Folge 1 - 100
Folge 101 - 200
Folge 201 - 300
Folge 301 ff.

 

Folgenübersicht:

1 - 12:
Freie Bewerberauswahl?
Einstellungsuntersuchung Erkundigungen Bewerbungsurlaub
Bewerbungskosten
Zulässige/unzul. Fragen i. Vorstellungsgespräch

13 - 24:
Psych. Gutachten
Gentest
Assessment Center
Neues Befristungsrecht / Teilzeitarbeit (TzBfG)

25 - 36:
Forts. Befristungsrecht / Teilzeitarbeit (TzBfG)
Neues im Erziehungsrecht

37 - 48:
Berufsschule/Freistellung
Dumpinglöhne
Kündigung/soz. Aspekte
Mobbing

49 - 60:
Das Arbeitszeugnis
Zeugnisgrundsätze
Zeugnissprache
Zeugnisbenotung
Zeugnisformulierung

61 - 72:
Kündigung/Kopftuchtragen
Blutuntersuchungen

73 - 84:
Abmahnung
Andere Sanktionen

85 - 96:
Betriebl. Altersversorgung
Betriebsrente
“Riester-Rente”
Entgeltumwandlung

97 - 108:
Forts. “Riester-Rente”
Weihnachtsgratifikation
Kündigung/Schwangersch.
Gebetspausen
Krankheitsvertretung

109 - 120:
Lohngrundsätze I-V
Nebentätigkeitsverbot
Mobbing I-VI

121 - 132:
Kündigung - was tun?
Checkliste

133 - 144:
Kündigung - was tun?
Soll ich klagen?
Wer kann mich beraten?
Wie soll ich klagen?

145 - 156:
Neues Kündigungsrecht 2004

157 - 168:
Neues Kündigungsrecht
Sozialauswahl
Klagefrist
Neuregelung TzBfG

169 - 180:
Hartz IV
Ein-Euro-Job

181-192:
Ein-Euro-Job Forts.
Ausgleichsquittung /
unzulässiger Lohnverzicht

193 - 204:
Betriebsausflug
Elternzeit
Betriebsübergang

205 - 216:
Betriebliche Mitarbeiterkontrollen
Videoüberwachung
Schwerbehindertenschutz

217 - 228:
Neue Gewerbeordnung
Gebetspausen

228 - 240:
Neue Sperrzeitprobleme
Beendigungsvergleich

241 - 252
Ethik-Regeln I-XII

253 - 264
Hitzeregelungen
Internetnutzung (Kündigung)

265 - 276
Nebentätigkeiten
Arbeit auf Abruf

277 - 288
Arbeitslosengeld - Sperrfrist
Neues Elternzeitgesetz / Elterngeld

289 - 300
Arbeitsrechtliche Schwellenwerte
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

301 - 312
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

313 - 323
Sittenwidrige Vergütung

324 - 335
Schutz der behinderten Menschen

336 - 347
Schutz der behinderten Menschen
Annahmeverzug