Hans-Gottlob-Ruehle.de
Arbeitsrecht von Hans Gottlob Rühle

 

Hans Gottlob RühleHans Gottlob Rühle,
Richter am Arbeitsgericht Gießen,
Direktor des Arbeitsgerichts Marburg a.D.,
gibt Praxistips rund um das Thema Bewerbung und Arbeitsrecht.

 

Folge 309: Ordentliche Kündigung – Sozialauswahl

Frage:

    Mein Arbeitgeber hat bei der betriebsbedingten Kündigung eines Arbeitsverhältnisses für mich falsche Sozialdaten berücksichtigt. Zu wessen Lasten geht das? Kann der Arbeitgeber sich darauf berufen, daß ich ihm die falsche Kinderzahl und das falsche Lebensalter mitgeteilt habe?

Der Fall:

    Arbeitnehmer Lucky Luciano hat dem Arbeitgeber Hans Moser seine genaue Kinderzahl nicht mitgeteilt. Der Arbeitgeber weiß nur, daß auf der Lohnsteuerkarte 3 Kinder verzeichnet sind.
    Der Arbeitnehmer Sultan Mohammed hat dem Arbeitgeber bei der Einstellung als Lebensalter 34 Jahre angegeben. Jetzt ist er 15 Jahre beschäftigt und danach 49 Jahre alt. Arbeitgeber Hans Moser kündigt beide betriebsbedingt. Daraufhin kommt Sultan Mohammed im Kündigungsschutzverfahren vor dem Arbeitsgericht und legt eine türkische amtliche Bescheinigung vor, wonach er tatsächlich 10 Jahre älter ist, nämlich mittlerweile 59 Jahre alt. Aufgrund dessen sei die Sozialauswahl falsch und ein jüngerer Arbeitnehmer vorrangig zu kündigen.
    Arbeitnehmer Lucky Luciano gibt in seiner Kündigungsschutzklage an, daß er tatsächlich nicht 3, sondern 7 Kinder habe. Dazu gehören auch 3 außereheliche Kinder. Bei 7 Kindern sei in der Sozialauswahl ein anderer Arbeitskollege vorrangig zu kündigen gewesen.
    Der Arbeitgeber meint, daß er sich nur auf die Daten stützen könne, die ihm von den Mitarbeitern mitgeteilt sind oder bekannt sind, egal ob richtig oder falsch.

Die Lösung:

1. Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes

    Der Allgemeine Kündigungsschutz findet nur Anwendung auf die Arbeitsverhältnisse, die dem Kündigungsschutzgesetz unterliegen.
    Nach § 1 Abs. 1 KSchG muß ein Arbeitnehmer mehr als 6 Monate beschäftigt sein, um in den Bereich des Allgemeinen Kündigungsschutzes zu gelangen. Außerdem müssen nach § 23 Abs. 1 KSchG im Betrieb bzw. dem Unternehmen i.d.R. mehr als 10 Arbeitnehmer (ohne Auszubildende) beschäftigt sein. Dabei sind bei Feststellung der Zahl der beschäftigten Arbeitnehmer teilzeitbeschäftigte Arbeitnehmer mit einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit bis zu 20 Stunden mit 0,5 und mit einer Wochenarbeitszeit bis zu 30 Stunden mit 0,75 zu berücksichtigen.
    Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, kann der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis ohne Beachtung des Kündigungsschutzgesetzes unter Einhaltung der gesetzlichen, tariflichen oder vertraglichen Kündigungsfristen jederzeit kündigen.
    Achtung: Für Altarbeitnehmer, die vor dem 1.4.2003 schon beschäftigt waren, gilt z.T. noch der alte Kündigungsschutz im Sinne einer Besitzstandsregelung (mehr als 5 Arbeitnehmer).
    Auch ohne Geltung des Kündigungsschutzgesetzes sind Tatbestände des besonderen Kündigungsschutzes zu berücksichtigen, z.B. wenn eine Mitarbeiterin schwanger ist, wenn der Schwerbehindertenschutz vorliegt oder eine Tätigkeit in Parlamenten.

2. Kündigungsgründe nach dem Kündigungsschutzgesetz

    Nach § 1 Abs. 2 KSchG kann der Arbeitgeber bei Geltung des Allgemeinen Kündigungsschutzes das Arbeitsverhältnis nur kündigen, wenn entweder
    – betriebsbedingte Kündigungsgründe vorliegen,
    – verhaltensbedingte Kündigungsgründe vorliegen oder
    – personenbedingte Gründe vorhanden sind.
    Verhaltensbedingte Kündigungsgründe liegen vor allem dann vor, wenn der Arbeitnehmer seine Pflichten aus dem Arbeitsvertrag in schwerwiegender Weise verletzt hat und ggf. entsprechende Abmahnungen vorliegen.
    Personenbedingte Gründe sind dann gegeben, wenn ein Arbeitnehmer die erforderliche Qualifikation in keiner Weise besitzt. Der Hauptfall der personenbedingten Kündigung ist jedoch die Kündigung wegen erheblicher Krankheitszeiten und dadurch entstehenden wirtschaftlichen und betrieblichen Störungen beim Arbeitgeber.
    Die betriebsbedingte Kündigung ist möglich, wenn Arbeitsplätze im Betrieb weggefallen sind und vom Arbeitgeber die Grundsätze der Sozialauswahl gewahrt sind.

3. Wegfall des Arbeitsplatzes

    Arbeitgeber Hans Moser kann nur kündigen, wenn die Arbeitsplätze von Lucky Luciano und Sultan Mohammed bzw. zwei entsprechende Arbeitsplätze auf Dauer weggefallen sind. Weitere Voraussetzung ist, daß die Arbeitnehmer dann nicht auf einem anderen freien Arbeitsplatz in demselben Betrieb oder in einem anderen Betrieb des Unternehmens weiterbeschäftigt werden können.
    Dabei ist nicht erforderlich, daß der Arbeitsplatz der gekündigten Arbeitnehmer selbst weggefallen ist. Es kann sich auch um einen anderen Arbeitsplatz handeln. Der Arbeitgeber muß im Rahmen der Sozialauswahl dann auswählen, welche Arbeitnehmer er kündigt.

4. Sozialauswahl

    Nach § 1 Abs. 3 KSchG ist eine betriebsbedingte Kündigung sozial ungerechtfertigt, wenn der Arbeitgeber bei der Sozialauswahl des zu kündigenden Arbeitnehmers die notwendigen Sozialdaten nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt hat.
    Bei diesen Sozialdaten handelt es sich um
    – die Dauer der Betriebszugehörigkeit,
    – das Lebensalter,
    – die Unterhaltspflichten und
    – eine Schwerbehinderung des Arbeitnehmers.
    Der Arbeitgeber muß zunächst im Rahmen der Vergleichbarkeit der Arbeitnehmer prüfen, welche Arbeitnehmer in die Sozialauswahl mit einzubeziehen sind und für eine Kündigung in Betracht kommen.
    Vergleichbarkeit bedeutet Austauschbarkeit, d.h. das Arbeitnehmer mit vergleichbaren Fähigkeiten und Ausbildungen sowie Arbeitsverträgen im Betrieb versetzbar und austauschbar sind. Diese Arbeitnehmer sind in die Sozialauswahl einzubeziehen, z.B. die Gruppe der Maschinenarbeiter, der Elektrotechniker, der Werkzeugmacher, der Bauingenieure, der Industriekaufleute etc.
    Der Arbeitgeber hat die Sozialdaten der verschiedenen vergleichbaren Arbeitnehmer zu prüfen und zu gewichten. Er muß dann die sozial am meisten schutzwürdigen Arbeitnehmer kündigen.
    Welche Arbeitnehmer sozial am schutzwürdigsten sind, kann im Einzelfall sehr streitig sein. Klar ist aber, daß ein junger, noch nicht sehr lange beschäftigter Mitarbeiter ohne Unterhaltsverpflichtungen sozial weniger schützenswert ist, als ein älterer Arbeitnehmer mit längerer Betriebszugehörigkeit und vielen Kindern oder als ein schwerbehinderter Arbeitnehmer.

5. Falsche Daten

    Der Arbeitgeber muß bei der Sozialauswahl möglichst die richtigen Sozialdaten der Mitarbeiter berücksichtigen. Er ist dabei aber auf die Mitarbeit der Arbeitnehmer angewiesen.
    Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts kann der Arbeitgeber vor einer Kündigung bei den vergleichbaren Mitarbeitern zuerst nachfragen, ob die bei ihm vorhandenen Sozialdaten richtig oder noch richtig sind. Der Arbeitgeber muß dies aber nicht tun. Generell reicht es aus, wenn der Arbeitgeber die vom Arbeitnehmer mitgeteilten oder ihm bekannt gewordenen Daten zugrundelegt.
    Der Arbeitgeber ist im Rahmen der Betriebsratsanhörung nach § 102 BetrVG, aber auch im Rahmen der Sozialauswahl nicht verpflichtet, die Richtigkeit der von ihm vom Arbeitnehmer mitgeteilten und dokumentierten Daten zu überprüfen. Er kann deshalb mangels anderweitiger Kenntnisse wegen der Kinderzahl sich auf die Eintragungen in der Lohnsteuerkarte verlassen und von ihnen ausgehen. Er muß dabei nur dem Betriebsrat mitteilen, daß er sich auf diese Angaben in der Lohnsteuerkarte stützt.
    Will der Arbeitnehmer Lucky Luciano dagegen, daß der Arbeitgeber stets die richtige Kinderzahl berücksichtigt, so hätte der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber jeweils die aktuelle Kinderzahl bei jeder Veränderung mitteilen müssen. Tut er das nicht, geht dies zu seinen Lasten.

6. Falsches Lebensalter

    Es kommt immer wieder vor, daß ausländische Arbeitnehmer ein Lebensalter angeben, das im Nachhinein falsch sein soll. Dies beruht darauf, daß in verschiedenen Ländern, insbesondere außerhalb Europas, keine Personenstandsregister geführt werden oder geführt wurden.
    Gerade bei den türkischen Arbeitnehmern geschieht es, daß diese dann durch ein nachträgliches standesamtliches Verfahren das richtige Lebensalter feststellen lassen, das dann ggf. von dem ursprünglich angegebenen Lebensalter abweicht.
    Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts wie auch des Bundessozialgerichts ist jedoch für die Regeln des Kündigungsschutzgesetzes und für die die Rentenberechtigung das zuerst angegebene Lebensalter ausschlaggebend.
    Etwas anderes gilt nur dann, wenn der Arbeitnehmer rechtzeitig vor Ausspruch einer Kündigung dem Arbeitgeber das neue Lebensalter mitgeteilt und ihm die entsprechenden amtlichen Unterlagen zugänglich gemacht hat.
    Im vorliegenden Falle siegt der Arbeitgeber, da ihm die falschen Angaben der Mitarbeiter nicht zuzurechnen sind.

>> Nächste Folge
<< Zurück zur Übersicht

 

Textübernahmen aus den Arbeitsrechtsfolgen von Hans Gottlob Rühle:
Reine
Linkverweise ohne Einschränkung/Begrenzung. Bitte kopieren Sie dazu die URL aus der Browserzeile.
Wörtliche Textzitate: Ohne Rücksprache bis 2 Absätze aus bis zu 10 Folgen jew. mit Linkverweis. Weitergehende Textübernahmen nur mit schriftlicher Genehmigung.
Wichtiger Hinweis: Bitte keine e-mails mit konkreten Rechtsfragen einsenden, da diese nicht beantwortet werden können.
 

Stichwort-Überblick über die Arbeitsrechts-Folgen:

Abmahnung, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, Arbeitszeugnis, Assessment-Center, Ausgleichsquittung, Beendigungsvergleich, Befristungsrecht, Berufsschulunterricht, Betriebliche Altersversorgung (Entgeltumwandlung, “Riester-Rente”), Betriebliche Mitarbeiterkontrollen, Betriebsausflug, Bewerbungsgespräch, Bewerbungskosten, Bewerbungsurlaub, Dumpinglöhne/Lohnwucher, Ein-Euro-Job, Einstellungsuntersuchung, Elternzeitgesetz, Ethik-Regeln, Erziehungsurlaub/-geld, Gebetspausen, Gehaltsüberzahlung, Geldbußen-Erstattung, Gentest, Gleichbehandlung: (Bewerberauswahl, Gewerbeordnung (neue Regelung), Lohn, Nichteheliche Lebensverhältnisse, Stellenausschreibung), Hartz IV, Kündigung: (Kündigung - was tun? Alkoholmißbrauch, Unzeit, Kleinbetriebe, Kopftuchtragen, Privattelefonate/SMS, Internetnutzung, Schlechtleistung, Schriftform, Sittenwidrige Vergütung, Sperrzeitprobleme, Wiedereinstellungsanspruch, Diebstahl, Schwangerschaft), Kündigungsrecht 2004 (Neuer Abfindungsanspruch, Sozialauswahl, Klagefrist), Lohngrundsätze, Mobbing, Nebentätigkeitsverbot, Psychologisches Gutachten, Rauchverbot/Nichtraucherschutz, Sperrzeit, Teilzeitarbeit (TzBfG), Schwerbehindertenschutz, Videoüberwachung, Weihnachtsgeld (Rückzahlungspflicht)
  

STARTSEITE >>

Arbeitsrecht
von H.G. Rühle

Übersicht über alle bisher erschienenen Folgen:
Folge 1 - 100
Folge 101 - 200
Folge 201 - 300
Folge 301 ff.

 

Folgenübersicht:

1 - 12:
Freie Bewerberauswahl?
Einstellungsuntersuchung Erkundigungen Bewerbungsurlaub
Bewerbungskosten
Zulässige/unzul. Fragen i. Vorstellungsgespräch

13 - 24:
Psych. Gutachten
Gentest
Assessment Center
Neues Befristungsrecht / Teilzeitarbeit (TzBfG)

25 - 36:
Forts. Befristungsrecht / Teilzeitarbeit (TzBfG)
Neues im Erziehungsrecht

37 - 48:
Berufsschule/Freistellung
Dumpinglöhne
Kündigung/soz. Aspekte
Mobbing

49 - 60:
Das Arbeitszeugnis
Zeugnisgrundsätze
Zeugnissprache
Zeugnisbenotung
Zeugnisformulierung

61 - 72:
Kündigung/Kopftuchtragen
Blutuntersuchungen

73 - 84:
Abmahnung
Andere Sanktionen

85 - 96:
Betriebl. Altersversorgung
Betriebsrente
“Riester-Rente”
Entgeltumwandlung

97 - 108:
Forts. “Riester-Rente”
Weihnachtsgratifikation
Kündigung/Schwangersch.
Gebetspausen
Krankheitsvertretung

109 - 120:
Lohngrundsätze I-V
Nebentätigkeitsverbot
Mobbing I-VI

121 - 132:
Kündigung - was tun?
Checkliste

133 - 144:
Kündigung - was tun?
Soll ich klagen?
Wer kann mich beraten?
Wie soll ich klagen?

145 - 156:
Neues Kündigungsrecht 2004

157 - 168:
Neues Kündigungsrecht
Sozialauswahl
Klagefrist
Neuregelung TzBfG

169 - 180:
Hartz IV
Ein-Euro-Job

181-192:
Ein-Euro-Job Forts.
Ausgleichsquittung /
unzulässiger Lohnverzicht

193 - 204:
Betriebsausflug
Elternzeit
Betriebsübergang

205 - 216:
Betriebliche Mitarbeiterkontrollen
Videoüberwachung
Schwerbehindertenschutz

217 - 228:
Neue Gewerbeordnung
Gebetspausen

228 - 240:
Neue Sperrzeitprobleme
Beendigungsvergleich

241 - 252
Ethik-Regeln I-XII

253 - 264
Hitzeregelungen
Internetnutzung (Kündigung)

265 - 276
Nebentätigkeiten
Arbeit auf Abruf

277 - 288
Arbeitslosengeld - Sperrfrist
Neues Elternzeitgesetz / Elterngeld

289 - 300
Arbeitsrechtliche Schwellenwerte
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

301 - 312
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

313 - 323
Sittenwidrige Vergütung

324 - 335
Schutz der behinderten Menschen

336 - 347
Schutz der behinderten Menschen
Annahmeverzug