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Hans-Gottlob-Ruehle.de Arbeitsrecht von Hans Gottlob Rühle |
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Hans Gottlob Rühle,
Richter am Arbeitsgericht Gießen, Direktor des Arbeitsgerichts Marburg a.D., gibt Praxistips rund um das Thema Bewerbung und Arbeitsrecht.
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Schutz der behinderten Menschen XI Vermutung der Diskriminierung/Beweislastverschiebung
Frage:
Wie soll ich als Bewerber beweisen, daß der Arbeitgeber mich wegen meiner Behinderung nicht eingestellt hat oder benachteiligt und diskriminiert? In der Regel wird der Arbeitgeber doch nicht so dumm sein, meine
Bewerbung mit Hinweis auf meine Diskriminierung abzulehnen. Reichen vielleicht Hilfstatsachen und die Vermutung der Benachteiligung wegen Behinderung aus, um den Schadenersatzanspruch zu realisieren? Kann hier
eine Beweislastumkehr zu Lasten des Arbeitgebers erfolgen?
Der Fall:
Arbeitgeber Gustav Hertz führt einen Elektrobetrieb. Der schwerbehinderte Bewerber Philipp Otto Runge möchte einen Ingenieurposten erhalten, wird aber abgelehnt. Runge hat keine Einladung zu einem
Vorstellungsgespräch erhalten. Seine Bewerbungsunterlagen erhielt er ohne Begründung kommentarlos zurück, obwohl er in der Bewerbung auf seine Schwerbehinderung hingewiesen hat. Der Vorsitzende der
Schwerbehindertenvertretung Haile Selassie beschwert sich vehement, daß die Schwerbehindertenvertretung nicht darüber informiert wurde, daß sich schwerbehinderte Bewerber eingefunden hatten. Weiter beschwert
sich Selassie darüber, daß auch die Arbeitsagentur nicht eingeschaltet wurde und nicht ernsthaft nach schwerbehinderten Bewerbern gesucht wurde. Der Bewerber Ernest Hemmingway ist zum Vorstellungsgespräch
geladen worden. Er ist Elektrotechniker. Die freie Stelle ist ebenfalls eine Technikerstelle. Der Arbeitgeber verlangt aber eine Ingenieursausbildung. Arbeitgeber Gustav Hertz fragte den Bewerber Hemmingway nach
seiner Schwerbehinderung. Als dieser die Schwerbehinderung einräumte, winkte Hertz ab, gab Hemmingway die Bewerbungsunterlagen und schickte ihn nach Hause.
Die Lösung
1. Neue Beweislastregel
In § 22 AGG hat der Gesetzgeber für alle Diskriminierungsfälle folgende neue Beweislastregel aufgestellt: Wenn im Streitfall die benachteiligte Partei Indizien beweist, die eine Benachteiligung wegen eines in
§ 1 AGG genannten Grundes vermuten lassen (Benachteiligung wegen Rasse, ethnischer Herkunft, Geschlecht, Religion, Weltanschauung, Behinderung, Alter, sexuelle Identität), so trägt die benachteiligende Partei
die Beweislast dafür, daß keine rechtswidrige Diskriminierung vorgelegen hat. Der Gesetzgeber hat mit dieser Vorschrift eine Beweislastverschiebung bzw. eine Beweislastumkehr zu Lasten des Arbeitgebers
vorgenommen. Der Bewerber muß darlegen und notfalls beweisen, daß Tatsachen vorhanden sind, die eine Benachteiligung oder Diskriminierung vermuten lassen. Schon bei Vorliegen einer Vermutung muß der Arbeitgeber
einen Entlastungsbeweis führen. Gelingt ihm dies nicht, so muß er Schadenersatz oder Entschädigung/Schmerzensgeld zahlen. Eine Vermutung liegt dann vor, wenn der Arbeitnehmer oder der Bewerber das Gericht mit
allgemeinen Beweismitteln von einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit für die Kausalität zwischen Schwerbehinderteneigenschaft und der Benachteiligung überzeugen kann.
2. Glaubhaftmachung/Vermutung
Die Vermutung einer Diskriminierung oder Benachteiligung wegen Schwerbehinderung nach dieser Vorschrift liegt jedoch nicht dann schon vor, wenn der klagende Bewerber nach § 294 ZPO eine Versicherung an Eides
statt ablegt. Vielmehr muß der Kläger Hilfstatsachen darlegen und ggf. beweisen, die eine Benachteiligung wegen der Schwerbehinderteneigenschaft bzw. wegen der Behinderteneigenschaft vermuten lassen. Das Gericht
muß die Überzeugung einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit für die Kausalität zwischen der Behinderteneigenschaft und der Benachteiligung gewinnen. Eine Entschädigungspflicht des Arbeitgebers besteht bereits
dann, wenn der Arbeitgeber wichtige Pflichten im Bewerbungsverfahren verletzt hat. Dazu gehört insbesondere das Unterlassen bestimmter, vom Gesetz vorgesehenen Schritte im Rahmen der Bewerbungen von
schwerbehinderten Arbeitnehmern.
3. Fehlende Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung
Der Arbeitgeber ist verpflichtet, bei schwerbehinderten Bewerbern die Schwerbehindertenvertretung über die Bewerbung unmittelbar nach Eingang zu unterrichten (§ 81 Abs. 1 Satz 4 SGB IX) und sie dann weiterhin im
Bewerbungsverfahren zu beteiligen. Nach der Rechtsprechung läßt die Nichtbeteiligung der Schwerbehindertenvertretung auf eine Benachteiligung wegen der Schwerbehinderung schließen. Der Gesetzgeber hat die
Schwerbehindertenvertretung ausdrücklich ermächtigt, in Bewerbungsunterlagen auch der nichtbehinderten Bewerber Einblick zu nehmen und an den Vorstellungsgesprächen aller Bewerber teilzunehmen (§ 95 Abs. 2 Satz
3 SGB IX). Durch den Einblick in die Bewerbungsunterlagen und der Teilnahme an den Bewerbungsgesprächen soll die Schwerbehindertenvertretung die Möglichkeit haben, durch einen Vergleich der Qualifikationen
die benachteiligungsfreie Stellenbesetzung zu überprüfen. Insbesondere dann, wenn der Arbeitgeber gegen die Unterrichtungspflicht über den Eingang einer Bewerbung eines schwerbehinderten Menschen verstößt,
kann die Schwerbehindertenvertretung diese ihr gesetzlich zugewiesene Funktion nicht erfüllen. Schon dann spricht eine Vermutung für die Benachteiligung des schwerbehinderten Stellenbewerbers.
4. Nichteinschaltung der Arbeitsagentur
Der Arbeitgeber ist nach § 81 Abs. 1 Satz 2 SGB IX und nach § 82 SGB IX verpflichtet, die Bundesagentur für Arbeit oder einen Integrationsfachdienst/das Kreisjobcenter bei der Besetzung einer freien Stelle zu
benachrichtigen. Nach § 82 SGB IX muß insbesondere auch der öffentliche Arbeitgeber frei werdende Stellen frühzeitig der Arbeitsagentur/dem Kreisjobcenter melden. Unterläßt der Arbeitgeber diese
Benachrichtigungen, so kann auch hier schon die Vermutung der Benachteiligung eines schwerbehinderten Bewerbers gegeben sein.
5. Kein Vorstellungsgespräch
Der öffentliche Arbeitgeber ist nach § 82 SGB IX verpflichtet, schwerbehinderte Bewerber oder von der Bundesagentur vorgeschlagene schwerbehinderte Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen. Die Einladung
ist nur dann entbehrlich, wenn die fachliche Eignung offensichtlich fehlt. Auch hier kann bei einer Unterlassung das Indiz für eine Benachteiligung wegen Schwerbehinderung vorliegen.
6. Überzogene Qualifikationsanforderungen
Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist es zumindest dem öffentlichen Arbeitgeber verwehrt, bestimmte formale Ausbildungsqualifikationen zu verlangen, obwohl diese Qualifikationen objektiv sich aus
den Anforderungen der Stelle nicht ergeben. Wenn wie vorliegend vom Bewerber Hemmingway für eine Technikerstelle eine Ingenieursausbildung gefordert wird, obwohl die Technikerbildung ausreicht, so wäre dies
zumindest im Bereich des öffentlichen Dienstes ein Indiz für eine Benachteiligung wegen Schwerbehinderung.
7. Frage nach der Schwerbehinderung
Nach bisheriger Rechtsprechung ist die Frage im Vorstellungsgespräch nach der Schwerbehinderteneigenschaft zulässig. Es ist allerdings höchst fraglich und streitig, ob unter der neuen Rechtslage des AGG und des
Benachteiligungsverbots nach § 81 Abs. 2 SGB IX dies noch zulässig ist. Nach § 81 Abs. 2 SGB IX dürfen Arbeitgeber schwerbehinderte Beschäftigte nicht wegen ihrer Behinderung benachteiligen. Unter
Berücksichtigung der Europäischen Anti-Diskriminierungsrichtlinien und der Regeln des Allgemeinen Gleichberechtigungsgesetzes muß davon ausgegangen werden, daß dieses Benachteiligungsverbot für alle behinderten
Menschen gilt, auch wenn sie nicht als Schwerbehinderte anerkannt sind. Die wahrheitsgemäße Beantwortung der Frage nach der Schwerbehinderung bzw. Behinderung kann im Einzelfall durchaus dazu führen, daß
Bewerber nur wegen ihrer Schwerbehinderung vom Arbeitgeber nicht eingestellt werden. Deshalb spricht sich mittlerweile die Mehrheit der Kommentatoren dafür aus, daß die Frage nach der Schwerbehinderung generell
unzulässig ist und ein Indiz für eine Benachteiligung wegen Schwerbehinderung im Sinne der Schadenersatzvorschriften darstellt. Eine Ausnahme gilt nur dann, wenn eine Behinderung dazu führt, daß die
geforderte Tätigkeit nicht ausgeübt werden kann. Wenn von Anfang an die Erbringung der Leistung wegen der Behinderung nicht möglich ist, könnte die Frage nach der Schwerbehinderung noch zulässig sein. Diese
Fragen sind jedoch noch offen und müssen von der Rechtsprechung geklärt werden. Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur Zulässigkeit der Frage nach der Schwangerschaft
könnte danach die Frage nach der Schwerbehinderung selbst dann unzulässig sein, wenn eine bestimmte körperliche Unversehrtheit zur Erbringung der Arbeitsleistung erforderlich ist.
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Stichwort-Überblick über die Arbeitsrechts-Folgen:
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Abmahnung, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, Arbeitszeugnis, Assessment-Center, Ausgleichsquittung, Beendigungsvergleich, Befristungsrecht, Berufsschulunterricht, Betriebliche Altersversorgung (Entgeltumwandlung, “Riester-Rente”), Betriebliche Mitarbeiterkontrollen, Betriebsausflug, Bewerbungsgespräch, Bewerbungskosten, Bewerbungsurlaub, Dumpinglöhne/Lohnwucher, Ein-Euro-Job, Einstellungsuntersuchung, Elternzeitgesetz, Ethik-Regeln, Erziehungsurlaub/-geld, Gebetspausen, Gehaltsüberzahlung, Geldbußen-Erstattung, Gentest, Gleichbehandlung: (Bewerberauswahl, Gewerbeordnung (neue Regelung), Lohn, Nichteheliche Lebensverhältnisse, Stellenausschreibung), Hartz IV, Kündigung: (Kündigung - was tun? Alkoholmißbrauch, Unzeit, Kleinbetriebe, Kopftuchtragen, Privattelefonate/SMS, Internetnutzung, Schlechtleistung, Schriftform, Sittenwidrige Vergütung, Sperrzeitprobleme, Wiedereinstellungsanspruch, Diebstahl, Schwangerschaft), Kündigungsrecht 2004 (Neuer Abfindungsanspruch, Sozialauswahl, Klagefrist), Lohngrundsätze, Mobbing, Nebentätigkeitsverbot, Psychologisches Gutachten, Rauchverbot/Nichtraucherschutz, Sperrzeit, Teilzeitarbeit (TzBfG), Schwerbehindertenschutz, Videoüberwachung, Weihnachtsgeld (Rückzahlungspflicht)
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Arbeitsrecht von H.G. Rühle
Übersicht über alle bisher erschienenen Folgen: Folge 1 - 100 Folge 101 - 200 Folge 201 - 300 Folge 301 ff.
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Folgenübersicht:
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1 - 12: Freie Bewerberauswahl? Einstellungsuntersuchung Erkundigungen Bewerbungsurlaub
Bewerbungskosten Zulässige/unzul. Fragen i. Vorstellungsgespräch
13 - 24: Psych. Gutachten Gentest Assessment Center Neues Befristungsrecht /
Teilzeitarbeit (TzBfG)
25 - 36: Forts. Befristungsrecht / Teilzeitarbeit (TzBfG) Neues im Erziehungsrecht
37 - 48: Berufsschule/Freistellung Dumpinglöhne Kündigung/soz. Aspekte Mobbing
49 - 60: Das Arbeitszeugnis Zeugnisgrundsätze Zeugnissprache Zeugnisbenotung
Zeugnisformulierung
61 - 72: Kündigung/Kopftuchtragen Blutuntersuchungen
73 - 84: Abmahnung Andere Sanktionen
85 - 96: Betriebl. Altersversorgung Betriebsrente “Riester-Rente”
Entgeltumwandlung
97 - 108: Forts. “Riester-Rente” Weihnachtsgratifikation Kündigung/Schwangersch.
Gebetspausen Krankheitsvertretung
109 - 120: Lohngrundsätze I-V Nebentätigkeitsverbot Mobbing I-VI
121 - 132: Kündigung - was tun? Checkliste
133 - 144: Kündigung - was tun? Soll ich klagen? Wer kann mich beraten?
Wie soll ich klagen?
145 - 156: Neues Kündigungsrecht 2004
157 - 168: Neues Kündigungsrecht Sozialauswahl Klagefrist Neuregelung TzBfG
169 - 180: Hartz IV Ein-Euro-Job
181-192: Ein-Euro-Job Forts. Ausgleichsquittung / unzulässiger Lohnverzicht
193 - 204: Betriebsausflug Elternzeit Betriebsübergang
205 - 216: Betriebliche Mitarbeiterkontrollen Videoüberwachung
Schwerbehindertenschutz
217 - 228: Neue Gewerbeordnung Gebetspausen
228 - 240: Neue Sperrzeitprobleme Beendigungsvergleich
241 - 252 Ethik-Regeln I-XII
253 - 264 Hitzeregelungen Internetnutzung (Kündigung)
265 - 276 Nebentätigkeiten Arbeit auf Abruf
277 - 288 Arbeitslosengeld - Sperrfrist Neues Elternzeitgesetz / Elterngeld
289 - 300 Arbeitsrechtliche Schwellenwerte Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz
301 - 312 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz
313 - 323 Sittenwidrige Vergütung
324 - 335 Schutz der behinderten Menschen
336 - 347 Schutz der behinderten Menschen Annahmeverzug
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