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Arbeitsrecht von Hans Gottlob Rühle

 

Hans Gottlob RühleHans Gottlob Rühle,
Richter am Arbeitsgericht Gießen,
Direktor des Arbeitsgerichts Marburg a.D.,
gibt Praxistips rund um das Thema Bewerbung und Arbeitsrecht.

 

Folge 159: Neue Sozialauswahl II

Der Fall:

    Unternehmer Don Giovanni muß sein Musiktheater aus wirtschaftlichen Gründen personell verkleinern. Wem kann und soll er kündigen?
    Der Geiger Vivaldi war schon bei seinem Vater Don Vito beschäftigt. Der quicklebendige junge Geiger Strauß ist aber wichtig für die Stimmung.
    Die Tänzerinnen Mimi, Musette und Aida sind alle gleich jung. Aida ist jedoch schwerbehindert und Mimi hat vom Stehgeiger Puccini 2 Kinder. Musette will Don Giovanni nicht gehen lassen, weil sie so hübsch ist.
    Wäre es einfacher, das ganze Ballett abzuschaffen und alle Tänzerinnen zu kündigen?

Die Lösung

1. Alte Rechtslage

    Nach der bis Ende 2003 geltenden Fassung des § 1 Abs. 3 KSchG war eine Kündigung sozial ungerechtfertigt, wenn
    “der Arbeitgeber bei der Auswahl des Arbeitnehmers soziale Gesichtspunkte nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt hat”.
    Der Gesetzgeber hatte bewußt die sozialen Gesichtspunkte nicht festgelegt. Insoweit bestand ein Ermessensspielraum des Arbeitgebers und ein entsprechender Überprüfungsspielraum der Gerichte.
    Dieser weite, unbestimmte Rechtsbegriff führte jedoch auch zu erheblicher Rechtsunsicherheit. Aus diesem Grunde hat der Gesetzgeber das Gesetz nunmehr revidiert.

2. Neue Gesetzesfassung

    Mit dem 1.1.2004 hat der Gesetzgeber eine Neufassung des § 1 Abs. 3 KSchG eingeführt, die in dieser Form in wesentlichen Punkten schon 1996 von der Regierung Kohl nivelliert wurde, aber 1999 aber wieder geändert wurde. Es gilt: Agenda 2010 ist in wichtige Teilen Kohl 1996.
    In der neuen Fassung des § 1 Abs. 3 KSchG ist die Kündigung sozial ungerechtfertigt, wenn der Arbeitgeber
    “bei der Auswahl des Arbeitnehmers die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter, die Unterhaltspflichten und die Schwerbehinderung nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt hat”.
    Diese Neufassung hat die “sozialen Gesichtspunkte” relativ genau eingegrenzt und damit die Sozialauswahl im wesentlichen auf diese 4 Punkte beschränkt. Die gerichtliche Überprüfung hat sich jedenfalls im wesentlichen nur darauf zu erstrecken, ob der Arbeitgeber diese Gesichtspunkte ausreichend gewahrt hat.

3. Ausnahmen

    Der Arbeitgeber ist an den vorgegebenen gesetzlichen Prüfungsmaßstab mit den 4 Kriterien gebunden. Er ist gut beraten, sich daran zu halten.
    Nur im Einzelfall und ausnahmsweise kann er dem gesetzlichen Maßstab genügen, wenn er noch weitere Gesichtspunkte in die Abwägung einbezieht. Dies gilt nur dann, wenn die Sozialauswahl ohne diese Berücksichtigung eine unbillige Härte darstellen würde. Aus verfassungsrechtlichen Gründen kann dies trotz des gesetzlichen Kanons im Einzelfall trotz des eindeutigen Wortlauts nicht ausgeschlossen und verwehrt werden.
    Dies bedeutet, daß der Arbeitgeber besonders gravierende soziale Gesichtspunkte eventuell bei der Sozialauswahl im Ausnahmefall noch berücksichtigen darf, er ist nach dem Gesetz aber nicht verpflichtet, solche zusätzlichen Gesichtspunkte in die Sozialauswahl mit einzubeziehen und damit sein Risiko zu scheitern zu erhöhen.
    Die zusätzlichen Faktoren müssen jedoch in einem Zusammenhang mit den gesetzlich genannten 4 Kriterien stehen.
    Beispiel: Alle zu kündigenden Geiger haben jeweils 1 Kind. Das Kind von Händel ist aber schwerstbehindert und bedarf besonderer Pflege und finanzieller Aufwendungen.
    Denkbar ist auch, daß sich weitere gravierende soziale Kriterien aus betrieblichen Gegebenheiten ergeben, z.B. eine Krankheit, Verletzung oder Behinderung aufgrund eines Betriebsunfalles oder eine Leistungseinschränkung aufgrund einer Berufskrankheit.
    Im übrigen aber schließt der Gesetzgeber weitere Kriterien strikt aus.

4. Gleichrangigkeit der Kriterien

    Nach dem Willen des Gesetzgebers sind alle der 4 aufgeführten Kriterien grundsätzlich gleich zu gewichten. Entgegen früherer Gebräuchlichkeiten kann insbesondere der Betriebszugehörigkeit nicht ein besonderes Schwergewicht zukommen, aber auch nicht der Schwerbehinderung.
    Es ist eine Gesamtabwägung aller Kriterien vorzunehmen. Zu kündigen ist derjenige, der am wenigsten auf den Erhalt des Arbeitsplatzes angewiesen ist, der damit am wenigsten sozial schutzwürdig ist.

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Textübernahmen aus den Arbeitsrechtsfolgen von Hans Gottlob Rühle:
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Stichwort-Überblick über die Arbeitsrechts-Folgen:

Abmahnung, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, Arbeitszeugnis, Assessment-Center, Ausgleichsquittung, Beendigungsvergleich, Befristungsrecht, Berufsschulunterricht, Betriebliche Altersversorgung (Entgeltumwandlung, “Riester-Rente”), Betriebliche Mitarbeiterkontrollen, Betriebsausflug, Bewerbungsgespräch, Bewerbungskosten, Bewerbungsurlaub, Dumpinglöhne/Lohnwucher, Ein-Euro-Job, Einstellungsuntersuchung, Elternzeitgesetz, Ethik-Regeln, Erziehungsurlaub/-geld, Gebetspausen, Gehaltsüberzahlung, Geldbußen-Erstattung, Gentest, Gleichbehandlung: (Bewerberauswahl, Gewerbeordnung (neue Regelung), Lohn, Nichteheliche Lebensverhältnisse, Stellenausschreibung), Hartz IV, Kündigung: (Kündigung - was tun? Alkoholmißbrauch, Unzeit, Kleinbetriebe, Kopftuchtragen, Privattelefonate/SMS, Internetnutzung, Schlechtleistung, Schriftform, Sittenwidrige Vergütung, Sperrzeitprobleme, Wiedereinstellungsanspruch, Diebstahl, Schwangerschaft), Kündigungsrecht 2004 (Neuer Abfindungsanspruch, Sozialauswahl, Klagefrist), Lohngrundsätze, Mobbing, Nebentätigkeitsverbot, Psychologisches Gutachten, Rauchverbot/Nichtraucherschutz, Sperrzeit, Teilzeitarbeit (TzBfG), Schwerbehindertenschutz, Videoüberwachung, Weihnachtsgeld (Rückzahlungspflicht)
  

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Arbeitsrecht
von H.G. Rühle

Übersicht über alle bisher erschienenen Folgen:
Folge 1 - 100
Folge 101 - 200
Folge 201 - 300
Folge 301 ff.

 

Folgenübersicht:

1 - 12:
Freie Bewerberauswahl?
Einstellungsuntersuchung Erkundigungen Bewerbungsurlaub
Bewerbungskosten
Zulässige/unzul. Fragen i. Vorstellungsgespräch

13 - 24:
Psych. Gutachten
Gentest
Assessment Center
Neues Befristungsrecht / Teilzeitarbeit (TzBfG)

25 - 36:
Forts. Befristungsrecht / Teilzeitarbeit (TzBfG)
Neues im Erziehungsrecht

37 - 48:
Berufsschule/Freistellung
Dumpinglöhne
Kündigung/soz. Aspekte
Mobbing

49 - 60:
Das Arbeitszeugnis
Zeugnisgrundsätze
Zeugnissprache
Zeugnisbenotung
Zeugnisformulierung

61 - 72:
Kündigung/Kopftuchtragen
Blutuntersuchungen

73 - 84:
Abmahnung
Andere Sanktionen

85 - 96:
Betriebl. Altersversorgung
Betriebsrente
“Riester-Rente”
Entgeltumwandlung

97 - 108:
Forts. “Riester-Rente”
Weihnachtsgratifikation
Kündigung/Schwangersch.
Gebetspausen
Krankheitsvertretung

109 - 120:
Lohngrundsätze I-V
Nebentätigkeitsverbot
Mobbing I-VI

121 - 132:
Kündigung - was tun?
Checkliste

133 - 144:
Kündigung - was tun?
Soll ich klagen?
Wer kann mich beraten?
Wie soll ich klagen?

145 - 156:
Neues Kündigungsrecht 2004

157 - 168:
Neues Kündigungsrecht
Sozialauswahl
Klagefrist
Neuregelung TzBfG

169 - 180:
Hartz IV
Ein-Euro-Job

181-192:
Ein-Euro-Job Forts.
Ausgleichsquittung /
unzulässiger Lohnverzicht

193 - 204:
Betriebsausflug
Elternzeit
Betriebsübergang

205 - 216:
Betriebliche Mitarbeiterkontrollen
Videoüberwachung
Schwerbehindertenschutz

217 - 228:
Neue Gewerbeordnung
Gebetspausen

228 - 240:
Neue Sperrzeitprobleme
Beendigungsvergleich

241 - 252
Ethik-Regeln I-XII

253 - 264
Hitzeregelungen
Internetnutzung (Kündigung)

265 - 276
Nebentätigkeiten
Arbeit auf Abruf

277 - 288
Arbeitslosengeld - Sperrfrist
Neues Elternzeitgesetz / Elterngeld

289 - 300
Arbeitsrechtliche Schwellenwerte
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

301 - 312
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

313 - 323
Sittenwidrige Vergütung

324 - 335
Schutz der behinderten Menschen

336 - 347
Schutz der behinderten Menschen
Annahmeverzug