Hans-Gottlob-Ruehle.de
Arbeitsrecht von Hans Gottlob Rühle

 

Hans Gottlob RühleHans Gottlob Rühle,
Richter am Arbeitsgericht Gießen,
Direktor des Arbeitsgerichts Marburg a.D.,
gibt Praxistips rund um das Thema Bewerbung und Arbeitsrecht.

 

Folge 158: Die neue Sozialauswahl I

Der Fall:

    Musikunternehmer Don Giovanni muß sein Musiktheater aus wirtschaftlichen Gründen personell verkleinern. Von den Geigern Vivaldi, Händel, Strauß und Telemann muß mindestens einer gehen, ebenso von den Sängern Liporello, Figaro, Dona Elvira und Salome. Die Tänzerinnen Mimi und Musette müssen wie das Ballett ganz gestrichen werden.
    Don Giovanni hat gehört, daß die Sozialauswahl seit 1.1.2004 zu seinen Gunsten neu geregelt sei. Er fragt sich nun, was ist geblieben, was ist in der Sozialauswahl neu?

Die Lösung

1. Betriebsbedingte Kündigung

    Die vom Unternehmer Don Giovanni bei den beabsichtigten Kündigungen zu beachtende Sozialauswahl findet nur bei betriebsbedingten Kündigungen statt, d.h. wenn der Arbeitnehmer aus dringenden betrieblichen Erfordernissen wegen Wegfalls eines Arbeitsplatzes nicht weiterbeschäftigt werden kann.
    Bei einer verhaltensbedingten Kündigung wegen grober Vertragsverletzung oder einer personenbedingten Kündigung wegen erheblicher Krankheitszeiten würde es keinen Sinn machen, einen anderen Arbeitnehmer anstelle des vertragsbrüchigen oder erkrankten Arbeitnehmer zu kündigen.

2. Gesetzliche Regelung

    Die bei einer betriebsbedingten Kündigung vorzunehmende Sozialauswahl ist in § 1 Absatz 3 KSchG geregelt. Dies gilt für die alte wie für die neue Gesetzesfassung.
    Zur Erläuterung: Wenn aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten, innerbetrieblicher oder außerbetrieblicher Probleme, Umsatzrückgang, Rückgang der Aufträge, Rationalisierung, Kostendruck etc. Arbeitsplätze wegfallen, so darf der Arbeitgeber nicht zwangsläufig denjenigen Arbeitnehmer kündigen, dessen Arbeitsplatz weggefallen ist. Wenn z.B. von 100 Maschinenarbeitsplätzen 10 Arbeitsplätze entfallen, so darf der Arbeitgeber 10 Maschinenarbeiter kündigen, jedoch nicht zwangsläufig diejenigen an den stillgestellten Maschinen. Er muß vielmehr innerhalb der Gruppe der Maschinenarbeiter zur Kündigung auswählen, die sozial am wenigsten schutzwürdig sind und sich am Arbeitsmarkt noch am leichtesten behaupten. Diese Auswahl fällt aber im Einzelfall sehr schwer.

3. Betriebsbezogenheit

    Das Kündigungsschutzgesetz an sich ist unternehmensbezogen, auch wenn das Gesetz z.B. im neuen § 23 Absatz 1 KSchG immer noch vom Betrieb statt vom Unternehmen spricht.
    Die Sozialauswahl ist jedoch nach Wortlaut und ganz einhelliger Meinung betriebsbezogen vorzunehmen. Hat der Arbeitgeber / das Unternehmen jeweils einen Betrieb in Berlin, Hamburg und Köln, so müssen nicht die Maschinenarbeiter aller 3 Betriebe zusammengenommen und verglichen werden, sondern nur die Arbeiter in Berlin, in Hamburg oder in Köln. Normalerweise hat der dann gekündigte Arbeitnehmer keinen Anspruch darauf, daß statt seiner ein sozial besserstehender Arbeitnehmer in einem anderen Betrieb gekündigt wird.
    Das Problem hat Musikunternehmer Don Giovanni nicht, da er nur ein Musiktheater betreibt.

4. Vergleichbarkeit der Arbeitnehmer

    In die soziale Auswahl sind nur die Arbeitnehmer einzubeziehen, die miteinander verglichen werden können. Entscheidend sind hierbei zum einen die Arbeitsaufgaben der Arbeitnehmer, ihre vertraglichen Verpflichtungen, ihre arbeitsvertraglichen Grenzen und ihre Stellung in der Betriebshierarchie.
    Zum anderen sind entscheidend die Fähigkeiten und die Ausbildung der Arbeitnehmer und ihre Einsetzbarkeit im Betrieb.
    Auf eine Kurzformel gebracht: Vergleichbar sind regelmäßig alle die Arbeitnehmer, die aufgrund ihrer Fähigkeiten und vertraglichen Aufgaben austauschbar sind. Es gilt das Prinzip der “horizontalen Vergleichbarkeit”. Im Ergebnis bedeutet dies, daß regelmäßig der angelernte Arbeiter mit den anderen angelernten Arbeitern, der Facharbeiter mit dem einschlägig ausgebildeten Facharbeiter, die Industriekauffrau mit der Industriekauffrau, der Meister mit dem Meister, der kaufmännisch ausgebildete Abteilungsleiter mit der anderen kaufmännisch ausgebildeten kaufmännischen Abteilungsleiterin, bestimmte Spezialisten untereinander etc. vergleichbar sind.
    Eine relativ kurze, dem Arbeitgeber zumutbare Einarbeitungszeit bei dem Wechsel des Arbeitsplatzes spielt dabei keine entscheidende Rolle. Ist eine längere Ausbildungszeit vonnöten, entfällt die Vergleichbarkeit.
    Im Ergebnis ist somit der Geiger Vivaldi nicht mit dem Bass Liporello oder der Sopranette Dona Elvira, diese wiederum nicht mit den Tänzerinnen Mimi und Musette vergleichbar. Der Bass Liporello ist nicht mit der Sopranette Dona Elvira vergleichbar, aber im Zweifel sind es die Tänzerinnen Mimi und Musette.
    Ergebnis: Alle die vorstehend genannten rechtlichen Gesichtspunkte sind für den Unternehmer schwierig zu bewältigen, aber nicht neu, nicht von der Gesetzesänderung betroffen.

>> Nächste Folge: Die neue Sozialauswahl II
<< Zurück zur Übersicht

 

Textübernahmen aus den Arbeitsrechtsfolgen von Hans Gottlob Rühle:
Reine
Linkverweise ohne Einschränkung/Begrenzung. Bitte kopieren Sie dazu die URL aus der Browserzeile.
Wörtliche Textzitate: Ohne Rücksprache bis 2 Absätze aus bis zu 10 Folgen jew. mit Linkverweis. Weitergehende Textübernahmen nur mit schriftlicher Genehmigung.
Wichtiger Hinweis: Bitte keine e-mails mit konkreten Rechtsfragen einsenden, da diese nicht beantwortet werden können.
 

Stichwort-Überblick über die Arbeitsrechts-Folgen:

Abmahnung, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, Arbeitszeugnis, Assessment-Center, Ausgleichsquittung, Beendigungsvergleich, Befristungsrecht, Berufsschulunterricht, Betriebliche Altersversorgung (Entgeltumwandlung, “Riester-Rente”), Betriebliche Mitarbeiterkontrollen, Betriebsausflug, Bewerbungsgespräch, Bewerbungskosten, Bewerbungsurlaub, Dumpinglöhne/Lohnwucher, Ein-Euro-Job, Einstellungsuntersuchung, Elternzeitgesetz, Ethik-Regeln, Erziehungsurlaub/-geld, Gebetspausen, Gehaltsüberzahlung, Geldbußen-Erstattung, Gentest, Gleichbehandlung: (Bewerberauswahl, Gewerbeordnung (neue Regelung), Lohn, Nichteheliche Lebensverhältnisse, Stellenausschreibung), Hartz IV, Kündigung: (Kündigung - was tun? Alkoholmißbrauch, Unzeit, Kleinbetriebe, Kopftuchtragen, Privattelefonate/SMS, Internetnutzung, Schlechtleistung, Schriftform, Sittenwidrige Vergütung, Sperrzeitprobleme, Wiedereinstellungsanspruch, Diebstahl, Schwangerschaft), Kündigungsrecht 2004 (Neuer Abfindungsanspruch, Sozialauswahl, Klagefrist), Lohngrundsätze, Mobbing, Nebentätigkeitsverbot, Psychologisches Gutachten, Rauchverbot/Nichtraucherschutz, Sperrzeit, Teilzeitarbeit (TzBfG), Schwerbehindertenschutz, Videoüberwachung, Weihnachtsgeld (Rückzahlungspflicht)
  

STARTSEITE >>

Arbeitsrecht
von H.G. Rühle

Übersicht über alle bisher erschienenen Folgen:
Folge 1 - 100
Folge 101 - 200
Folge 201 - 300
Folge 301 ff.

 

Folgenübersicht:

1 - 12:
Freie Bewerberauswahl?
Einstellungsuntersuchung Erkundigungen Bewerbungsurlaub
Bewerbungskosten
Zulässige/unzul. Fragen i. Vorstellungsgespräch

13 - 24:
Psych. Gutachten
Gentest
Assessment Center
Neues Befristungsrecht / Teilzeitarbeit (TzBfG)

25 - 36:
Forts. Befristungsrecht / Teilzeitarbeit (TzBfG)
Neues im Erziehungsrecht

37 - 48:
Berufsschule/Freistellung
Dumpinglöhne
Kündigung/soz. Aspekte
Mobbing

49 - 60:
Das Arbeitszeugnis
Zeugnisgrundsätze
Zeugnissprache
Zeugnisbenotung
Zeugnisformulierung

61 - 72:
Kündigung/Kopftuchtragen
Blutuntersuchungen

73 - 84:
Abmahnung
Andere Sanktionen

85 - 96:
Betriebl. Altersversorgung
Betriebsrente
“Riester-Rente”
Entgeltumwandlung

97 - 108:
Forts. “Riester-Rente”
Weihnachtsgratifikation
Kündigung/Schwangersch.
Gebetspausen
Krankheitsvertretung

109 - 120:
Lohngrundsätze I-V
Nebentätigkeitsverbot
Mobbing I-VI

121 - 132:
Kündigung - was tun?
Checkliste

133 - 144:
Kündigung - was tun?
Soll ich klagen?
Wer kann mich beraten?
Wie soll ich klagen?

145 - 156:
Neues Kündigungsrecht 2004

157 - 168:
Neues Kündigungsrecht
Sozialauswahl
Klagefrist
Neuregelung TzBfG

169 - 180:
Hartz IV
Ein-Euro-Job

181-192:
Ein-Euro-Job Forts.
Ausgleichsquittung /
unzulässiger Lohnverzicht

193 - 204:
Betriebsausflug
Elternzeit
Betriebsübergang

205 - 216:
Betriebliche Mitarbeiterkontrollen
Videoüberwachung
Schwerbehindertenschutz

217 - 228:
Neue Gewerbeordnung
Gebetspausen

228 - 240:
Neue Sperrzeitprobleme
Beendigungsvergleich

241 - 252
Ethik-Regeln I-XII

253 - 264
Hitzeregelungen
Internetnutzung (Kündigung)

265 - 276
Nebentätigkeiten
Arbeit auf Abruf

277 - 288
Arbeitslosengeld - Sperrfrist
Neues Elternzeitgesetz / Elterngeld

289 - 300
Arbeitsrechtliche Schwellenwerte
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

301 - 312
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

313 - 323
Sittenwidrige Vergütung

324 - 335
Schutz der behinderten Menschen

336 - 347
Schutz der behinderten Menschen
Annahmeverzug