Hans-Gottlob-Ruehle.de
Arbeitsrecht von Hans Gottlob Rühle

 

Hans Gottlob RühleHans Gottlob Rühle,
Richter am Arbeitsgericht Gießen,
Direktor des Arbeitsgerichts Marburg a.D.,
gibt Praxistips rund um das Thema Bewerbung und Arbeitsrecht.

 

Folge 129: Hilfe Kündigung - Besonderer Kündigungsschutz behinderter Menschen

Der Fall:

    Arbeitgeber Gottlob hat den schwerbehinderten Techniker Andreas Gryphius ordentlich gekündigt. Der Betriebsrat hat zwar widersprochen, Gottlob hat sich aber nicht beeindrucken lassen. Gryphius meint, daß diese Kündigung rechtsunwirksam sein. Zu recht?

Die Lösung

1. Besonderer Kündigungsschutz

    Neben den Kündigungsfristen als Schutz für Arbeitnehmer gibt es das Kündigungsschutzgesetz. Das Kündigungsschutzgesetz regelt den allgemeinen Kündigungsschutz unter bestimmten Voraussetzungen.
    Daneben gibt es aber in diversen Gesetzen noch einen besonderen Kündigungsschutz bei Vorliegen besonderer, schutzwerter Eigenschaften von Arbeitnehmern. Dieser besondere Kündigungsschutz wird in der Praxis manchmal übersehen.

2. Schwerbehinderte Arbeitnehmer

    Der Gesetzgeber hat im früheren Schwerbehindertengesetz, jetzt im Sozialgesetzbuch IX schwerbehinderte Menschen in besonderer Weise geschützt. Zu diesem Schutz gehört zum einen das Benachteiligungsverbot des § 81 Abs. 2 SGB IX. Danach dürfen Arbeitgeber schwerbehinderte Beschäftigte nicht wegen ihrer Behinderung benachteiligen.
    Nach § 2 SGB IX sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft deshalb beeinträchtigt ist.
    Menschen im Sinne des Gesetzes sind insbesondere dann schwer behindert, wenn bei ihnen ein Grad der Behinderung Behinderung von mindestens 50 vorliegt und sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder Beschäftigung im Geltungsbereich des Gesetzes haben.
    Nach § 71 SGB IX hat der Arbeitgeber die Verpflichtung, bei mindestens 20 Arbeitsplätzen wenigstens 5 % der Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Menschen zu besetzen. Sonst muß er eine Ausgleichsabgabe nach § 77 SGB IX zahlen, die pro unbesetztem Pflichtarbeitsplatz zwischen 105 Euro bis 260 Euro monatlich beträgt.

3. Kündigungsschutz schwerbehinderter Menschen

    In § 85 SGB IX ist gefordert, daß die Kündigung von Arbeitsverhältnissen schwerbehinderter Menschen durch den Arbeitgeber der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes bedarf.
    Die Kündigungsfrist beträgt dann mindestens 4 Wochen. Eine ohne die Zustimmung des Integrationsamtes ausgesprochene Kündigung ist rechtsunwirksam.
    Davon ausgenommen sind Arbeitsverhältnisse, die zum Zeitpunkt der Kündigung ohne Unterbrechung noch nicht länger als 6 Monate bestanden haben oder Arbeitsverhältnisse von Menschen über 58 Lebensjahren mit Abfindungsanspruch nach § 90 SGB IX.
    § 91 SGB IX bestimmt, daß die Zustimmung des Integrationsamtes auch bei einer außerordentlichen Kündigung erforderlich ist.

4. Offenkundige Behinderungen

    Grundsätzlich bedarf es zur Einbeziehung in den besonderen Kündigungsschutz der behördlichen Anerkennung der Schwerbehinderung mit einem Grad der Behinderung von 50. Dieser Bescheid wird durch das Versorgungsamt erteilt.
    Eine Ausnahme kann nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts nur dann bestehen, wenn der Arbeitnehmer eine offensichtliche schwerwiegende Behinderung hat, die dem Arbeitgeber nicht verborgen bleiben konnte. In diesem Falle unterliegt ausnahmsweise auch dieser - behördlich noch nicht anerkannte - Arbeitnehmer dem Schwerbehindertenschutz.

5. Antragstellung

    Entscheidend ist, daß die Antragstellung beim Versorgungsamt vor Ausspruch der Kündigung erfolgt ist. Dies gilt auch für einen Verschlimmerungsantrag, wenn z.B. nur ein Grad der Behinderung von 30 anerkannt wurde, der behinderte Mensch damit aber nicht einverstanden war.
    Für den Kündigungsschutz spielt es dann keine wesentliche Rolle, wie lange das Anerkennungsverfahren dauert und ob die Kündigung des Arbeitgebers während des Anerkennungsverfahrens ausgesprochen wird.
    Sollte mangels Anerkennung die Kündigung vom Arbeitsgericht zunächst als rechtsunwirksam angesehen worden sein, so kann der später dann anerkannte schwerbehinderte Mensch im Wege der Restitutionsklage erneut gegen die Kündigung klagen und die Aufhebung des Urteils begehren.

6. Gleichstellung

    Der Gesetzgeber hat in § 2 Abs. 3 SGB IX vorgesehen, daß den schwerbehinderten Menschen auch die behinderten Menschen gleichgestellt werden können, die lediglich über einen Grad der Behinderung von wenigstens 30 verfügen. Die Anerkennung folgt nach einem entsprechenden Antrag durch das zuständige Arbeitsamt.
    Auch hier ist für den Bestand des besonderen Kündigungsschutzes entscheidend, daß der Gleichstellungsantrag vor Ausspruch der Kündigung vom Arbeitnehmer beim Arbeitsamt gestellt worden ist.
    Achtung: Wer einen Antrag als Schwerbehinderter beim Versorgungsamt oder einen Antrag auf Gleichstellung beim Arbeitsamt stellt, sollte sich jeweils eine Antragsbestätigung mit Datum vom Amt geben lassen. Sollte dann eine Kündigung erfolgen, kann der Arbeitnehmer entsprechend belegen, wann sein Antrag gestellt wurde.

>> Nächste Folge: Kündigung - Besonderer Kündigungsschutz
<< Zurück zur Übersicht

 

Textübernahmen aus den Arbeitsrechtsfolgen von Hans Gottlob Rühle:
Reine
Linkverweise ohne Einschränkung/Begrenzung. Bitte kopieren Sie dazu die URL aus der Browserzeile.
Wörtliche Textzitate: Ohne Rücksprache bis 2 Absätze aus bis zu 10 Folgen jew. mit Linkverweis. Weitergehende Textübernahmen nur mit schriftlicher Genehmigung.
Wichtiger Hinweis: Bitte keine e-mails mit konkreten Rechtsfragen einsenden, da diese nicht beantwortet werden können.
 

Stichwort-Überblick über die Arbeitsrechts-Folgen:

Abmahnung, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, Arbeitszeugnis, Assessment-Center, Ausgleichsquittung, Beendigungsvergleich, Befristungsrecht, Berufsschulunterricht, Betriebliche Altersversorgung (Entgeltumwandlung, “Riester-Rente”), Betriebliche Mitarbeiterkontrollen, Betriebsausflug, Bewerbungsgespräch, Bewerbungskosten, Bewerbungsurlaub, Dumpinglöhne/Lohnwucher, Ein-Euro-Job, Einstellungsuntersuchung, Elternzeitgesetz, Ethik-Regeln, Erziehungsurlaub/-geld, Gebetspausen, Gehaltsüberzahlung, Geldbußen-Erstattung, Gentest, Gleichbehandlung: (Bewerberauswahl, Gewerbeordnung (neue Regelung), Lohn, Nichteheliche Lebensverhältnisse, Stellenausschreibung), Hartz IV, Kündigung: (Kündigung - was tun? Alkoholmißbrauch, Unzeit, Kleinbetriebe, Kopftuchtragen, Privattelefonate/SMS, Internetnutzung, Schlechtleistung, Schriftform, Sittenwidrige Vergütung, Sperrzeitprobleme, Wiedereinstellungsanspruch, Diebstahl, Schwangerschaft), Kündigungsrecht 2004 (Neuer Abfindungsanspruch, Sozialauswahl, Klagefrist), Lohngrundsätze, Mobbing, Nebentätigkeitsverbot, Psychologisches Gutachten, Rauchverbot/Nichtraucherschutz, Sperrzeit, Teilzeitarbeit (TzBfG), Schwerbehindertenschutz, Videoüberwachung, Weihnachtsgeld (Rückzahlungspflicht)
  

STARTSEITE >>

Arbeitsrecht
von H.G. Rühle

Übersicht über alle bisher erschienenen Folgen:
Folge 1 - 100
Folge 101 - 200
Folge 201 - 300
Folge 301 ff.

 

Folgenübersicht:

1 - 12:
Freie Bewerberauswahl?
Einstellungsuntersuchung Erkundigungen Bewerbungsurlaub
Bewerbungskosten
Zulässige/unzul. Fragen i. Vorstellungsgespräch

13 - 24:
Psych. Gutachten
Gentest
Assessment Center
Neues Befristungsrecht / Teilzeitarbeit (TzBfG)

25 - 36:
Forts. Befristungsrecht / Teilzeitarbeit (TzBfG)
Neues im Erziehungsrecht

37 - 48:
Berufsschule/Freistellung
Dumpinglöhne
Kündigung/soz. Aspekte
Mobbing

49 - 60:
Das Arbeitszeugnis
Zeugnisgrundsätze
Zeugnissprache
Zeugnisbenotung
Zeugnisformulierung

61 - 72:
Kündigung/Kopftuchtragen
Blutuntersuchungen

73 - 84:
Abmahnung
Andere Sanktionen

85 - 96:
Betriebl. Altersversorgung
Betriebsrente
“Riester-Rente”
Entgeltumwandlung

97 - 108:
Forts. “Riester-Rente”
Weihnachtsgratifikation
Kündigung/Schwangersch.
Gebetspausen
Krankheitsvertretung

109 - 120:
Lohngrundsätze I-V
Nebentätigkeitsverbot
Mobbing I-VI

121 - 132:
Kündigung - was tun?
Checkliste

133 - 144:
Kündigung - was tun?
Soll ich klagen?
Wer kann mich beraten?
Wie soll ich klagen?

145 - 156:
Neues Kündigungsrecht 2004

157 - 168:
Neues Kündigungsrecht
Sozialauswahl
Klagefrist
Neuregelung TzBfG

169 - 180:
Hartz IV
Ein-Euro-Job

181-192:
Ein-Euro-Job Forts.
Ausgleichsquittung /
unzulässiger Lohnverzicht

193 - 204:
Betriebsausflug
Elternzeit
Betriebsübergang

205 - 216:
Betriebliche Mitarbeiterkontrollen
Videoüberwachung
Schwerbehindertenschutz

217 - 228:
Neue Gewerbeordnung
Gebetspausen

228 - 240:
Neue Sperrzeitprobleme
Beendigungsvergleich

241 - 252
Ethik-Regeln I-XII

253 - 264
Hitzeregelungen
Internetnutzung (Kündigung)

265 - 276
Nebentätigkeiten
Arbeit auf Abruf

277 - 288
Arbeitslosengeld - Sperrfrist
Neues Elternzeitgesetz / Elterngeld

289 - 300
Arbeitsrechtliche Schwellenwerte
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

301 - 312
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

313 - 323
Sittenwidrige Vergütung

324 - 335
Schutz der behinderten Menschen

336 - 347
Schutz der behinderten Menschen
Annahmeverzug