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Arbeitsrecht von Hans Gottlob Rühle

 

Hans Gottlob RühleHans Gottlob Rühle,
Richter am Arbeitsgericht Gießen,
Direktor des Arbeitsgerichts Marburg a.D.,
gibt Praxistips rund um das Thema Bewerbung und Arbeitsrecht.

 

Folge 225: Gebetspausen am Arbeitsplatz II

Der Fall

    Der tiefgläubige Suleiman verlangt von seinem Arbeitgeber Barbarossa zur Verrichtung seines muslimischen Morgengebets in der Frühschicht zwischen 6 Uhr und 8 Uhr die Freistellung für 3 Minuten.
    Das Unternehmen von Barbarossa ist im Bereich der Metallverarbeitung beschäftigt. Der Kläger arbeitet an einer Bandstraße. Barbarossa lehnt ab, weil er das Band nicht wegen des Klägers für 3 Minuten anhalten könne. Dies verursache erhebliche wirtschaftliche Verluste.
    Suleiman schlägt den Einsatz eines Springers vor. Barbarossa hat jedoch nicht regelmäßig einen Springer zur Verfügung.
    Barbarossa beschäftigt 500 Arbeitnehmer, darunter 150 Moslems. Er hält die Einrichtung von Gebetspausen für alle Moslems für wirtschaftlich und technisch völlig ausgeschlossen. Eine Vereinbarung über das Abhalten von Gebetspausen besteht weder zwischen Suleiman und Barbarossa, noch zwischen dem Betriebsrat und Arbeitgeber.
    Suleiman besteht auf der Wahrnehmung seiner religiösen Pflichtgebete und beruft sich auf sein Recht zur freien Religionsausübung.

Die Lösung

4. Recht zur Religionsausübung

    Sowohl aus der Generalklausel des § 242 BGB, wie auch aus allgemeinen Grundsätzen des Arbeitsvertragsrechts und auch aus § 616 BGB ergibt sich die Pflicht der Arbeitsvertragsparteien auf gegenseitige Rücksichtnahme und Respektierung im Rahmen des Zulässigen und des Zumutbaren.
    Durch verfassungskonforme Auslegung der Generalklauseln können auch Grundrechte des Arbeitnehmers wie des Arbeitgebers in das Vertragsrecht einfließen und eine Pflicht der jeweiligen Gegenseite zur Rücksichtnahme auslösen.
    Dabei ist anerkannt, daß sich die Grundrechte auch über den Anwendungsbereich des Artikel 1 Abs. 3 Grundgesetz (GG) ganz oder teilweise an Privatpersonen wenden können. Sie wirken vor allem auf dem Wege über die Auslegung ausfüllungsfähiger und wertausfüllungsbedürftiger Generalklauseln im Privatrecht. Zu dieser mittelbaren Wirkung der Grundrechte gehört vor allem die ungestörte Religionsausübung, soweit sie betrieblich möglich und zumutbar ist. Die von Suleiman begehrten Gebetspausen unterliegen dem Schutzbereich des Art. 4 Abs. 2 GG. Sowohl zum Begriff der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG wie auch zum Recht auf ungestörte Religionsausübung gehört insbesondere das Durchführen von Gebeten.

5. Religiöse Pflicht?

    Zur Religionsausübung gehört die Durchführung der zwingend vorgeschriebenen Handlungen und Riten. Ausreichend ist allerdings auch, daß der Gläubige die religiösen Handlungen selbst als verbindlich ansieht.
    Nach der Auskunft des Islamrates handelt es sich bei dem Frühgebet um ein Pflichtgebet. Das Nachholen soll nur unter bestimmten Voraussetzungen möglich sein. Die Einhaltung der religiösen Regeln ist insoweit in die Gewissensentscheidung des einzelnen Gläubigen gestellt.
    Damit hat Suleiman glaubhaft gemacht, daß er als gläubiger Muslim auch wegen des Frühgebetes aus Art. 4 Abs. 2 GG geschützt ist. Die Abhaltung des Frühgebetes beruht nicht auf überzogener Religiosität oder besonderer Eigenwilligkeit des Arbeitnehmers.
    Diese Gewissensentscheidung des Gläubigen muß in einem solchen Falle von seiten des Gerichts respektiert werden. Das Gericht hat sich einer Bewertung der Gewissensentscheidung zu enthalten.

6. Verzicht auf Rechte

    Die Arbeitsvertragsparteien haben zwar im Arbeitsvertrag über die Frage der Religionsausübung bzw. über Gebetspausen nichts geregelt. Gleichwohl ist die Frage, ob damit der Arbeitnehmer auf seine grundgesetzlich gesicherten Positionen, insbesondere auch auf das Recht zur Religionsausübung verzichtet hat.
    Ein solcher Verzicht aufgrund gesetzlicher Positionen ist im Arbeitsvertrag grundsätzlich möglich. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Arbeitnehmer bei Abschluß des Arbeitsvertrages damit rechnen mußte, daß die ordnungsgemäße Erfüllung des Arbeitsvertrages mit seinem Glauben oder Gewissen kollidieren könnte.
    Ein Grundrechtsverzicht wird für zulässig erachtet, da die Verfügung über Grundrechtspositionen eine wesentliche Form des Grundrechtsgebrauchs darstellt. Wer freiwillig privatrechtliche Verpflichtungen eingeht, Dienst- und Arbeitsverhältnisse begründet, soll diese Verpflichtungen aus diesem Arbeitsvertrag nicht unter Berufung auf die Glaubens- und Gewissensfreiheit nachträglich widerrufen können. Sonst wäre eine geordnete Arbeitswelt nicht möglich.
    Beispiel: Wird ein Kriegsdienstverweigerer bei einem Rüstungshersteller eingestellt, so kann er nicht nachträglich die Mitwirkung an der Herstellung von Panzern mit der Begründung verweigern, daß dies gegen seine Gewissensentscheidungen verstoße.

7. Schweigen als Verzicht?

    Die unterlassene Regelung im Arbeitsvertrag führt auch nicht zu einem stillschweigenden konkludenten Verzicht auf die von Suleiman geforderte Religionsausübung. Das Unterlassen einer Vertragsregelung ist nicht automatisch ein Verzicht.
    Beispiel: Wenn im Arbeitsvertrag nicht ausdrücklich der Urlaub geregelt ist oder die Pflicht zur Erbringung von Überstunden, so hat damit der Arbeitnehmer nicht stillschweigend auf Urlaub verzichtet und der Arbeitgeber stillschweigend auf die Ableistung von Überstunden!
    Dem Arbeitnehmer wäre es im Zuge der Vertragsverhandlungen auch nicht zumutbar, über seine Religionsausübung am Arbeitsplatz mit dem Arbeitgeber zu verhandeln. Aufgrund seiner Verhandlungsschwäche würde der Arbeitsvertrag sonst kaum zustande kommen. Der Arbeitnehmer müßte auch sein religiöses Bekenntnis bei Beginn der Verhandlungen offenbaren und ggf. Benachteiligungen in Kauf nehmen. Zur Sicherung der Glaubensfreiheit ist bei der Bewerbung um den Arbeitsplatz die Frage nach der Religionszugehörigkeit generell unzulässig (kirchliche Betriebe). Es wäre deshalb auch unzulässig, vom Arbeitnehmer bei Vertragsverhandlungen die Offenbarung seiner Religion zu fordern, um z.B. Gebetspausen vertraglich durchzusetzen. Da schon kein Fragerecht des Arbeitgebers besteht, ist auch eine Offenbarungspflicht des Arbeitgebers nicht gegeben.
    Im Ergebnis also hat Suleiman nicht auf seine Religionsausübung durch Schweigen oder Nichtregelung im Arbeitsvertrag verzichtet.
     

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Stichwort-Überblick über die Arbeitsrechts-Folgen:

Abmahnung, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, Arbeitszeugnis, Assessment-Center, Ausgleichsquittung, Beendigungsvergleich, Befristungsrecht, Berufsschulunterricht, Betriebliche Altersversorgung (Entgeltumwandlung, “Riester-Rente”), Betriebliche Mitarbeiterkontrollen, Betriebsausflug, Bewerbungsgespräch, Bewerbungskosten, Bewerbungsurlaub, Dumpinglöhne/Lohnwucher, Ein-Euro-Job, Einstellungsuntersuchung, Elternzeitgesetz, Ethik-Regeln, Erziehungsurlaub/-geld, Gebetspausen, Gehaltsüberzahlung, Geldbußen-Erstattung, Gentest, Gleichbehandlung: (Bewerberauswahl, Gewerbeordnung (neue Regelung), Lohn, Nichteheliche Lebensverhältnisse, Stellenausschreibung), Hartz IV, Kündigung: (Kündigung - was tun? Alkoholmißbrauch, Unzeit, Kleinbetriebe, Kopftuchtragen, Privattelefonate/SMS, Internetnutzung, Schlechtleistung, Schriftform, Sittenwidrige Vergütung, Sperrzeitprobleme, Wiedereinstellungsanspruch, Diebstahl, Schwangerschaft), Kündigungsrecht 2004 (Neuer Abfindungsanspruch, Sozialauswahl, Klagefrist), Lohngrundsätze, Mobbing, Nebentätigkeitsverbot, Psychologisches Gutachten, Rauchverbot/Nichtraucherschutz, Sperrzeit, Teilzeitarbeit (TzBfG), Schwerbehindertenschutz, Videoüberwachung, Weihnachtsgeld (Rückzahlungspflicht)
  

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Arbeitsrecht
von H.G. Rühle

Übersicht über alle bisher erschienenen Folgen:
Folge 1 - 100
Folge 101 - 200
Folge 201 - 300
Folge 301 ff.

 

Folgenübersicht:

1 - 12:
Freie Bewerberauswahl?
Einstellungsuntersuchung Erkundigungen Bewerbungsurlaub
Bewerbungskosten
Zulässige/unzul. Fragen i. Vorstellungsgespräch

13 - 24:
Psych. Gutachten
Gentest
Assessment Center
Neues Befristungsrecht / Teilzeitarbeit (TzBfG)

25 - 36:
Forts. Befristungsrecht / Teilzeitarbeit (TzBfG)
Neues im Erziehungsrecht

37 - 48:
Berufsschule/Freistellung
Dumpinglöhne
Kündigung/soz. Aspekte
Mobbing

49 - 60:
Das Arbeitszeugnis
Zeugnisgrundsätze
Zeugnissprache
Zeugnisbenotung
Zeugnisformulierung

61 - 72:
Kündigung/Kopftuchtragen
Blutuntersuchungen

73 - 84:
Abmahnung
Andere Sanktionen

85 - 96:
Betriebl. Altersversorgung
Betriebsrente
“Riester-Rente”
Entgeltumwandlung

97 - 108:
Forts. “Riester-Rente”
Weihnachtsgratifikation
Kündigung/Schwangersch.
Gebetspausen
Krankheitsvertretung

109 - 120:
Lohngrundsätze I-V
Nebentätigkeitsverbot
Mobbing I-VI

121 - 132:
Kündigung - was tun?
Checkliste

133 - 144:
Kündigung - was tun?
Soll ich klagen?
Wer kann mich beraten?
Wie soll ich klagen?

145 - 156:
Neues Kündigungsrecht 2004

157 - 168:
Neues Kündigungsrecht
Sozialauswahl
Klagefrist
Neuregelung TzBfG

169 - 180:
Hartz IV
Ein-Euro-Job

181-192:
Ein-Euro-Job Forts.
Ausgleichsquittung /
unzulässiger Lohnverzicht

193 - 204:
Betriebsausflug
Elternzeit
Betriebsübergang

205 - 216:
Betriebliche Mitarbeiterkontrollen
Videoüberwachung
Schwerbehindertenschutz

217 - 228:
Neue Gewerbeordnung
Gebetspausen

228 - 240:
Neue Sperrzeitprobleme
Beendigungsvergleich

241 - 252
Ethik-Regeln I-XII

253 - 264
Hitzeregelungen
Internetnutzung (Kündigung)

265 - 276
Nebentätigkeiten
Arbeit auf Abruf

277 - 288
Arbeitslosengeld - Sperrfrist
Neues Elternzeitgesetz / Elterngeld

289 - 300
Arbeitsrechtliche Schwellenwerte
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

301 - 312
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

313 - 323
Sittenwidrige Vergütung

324 - 335
Schutz der behinderten Menschen

336 - 347
Schutz der behinderten Menschen
Annahmeverzug