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Arbeitsrecht von Hans Gottlob Rühle

 

Hans Gottlob RühleHans Gottlob Rühle,
Richter am Arbeitsgericht Gießen,
Direktor des Arbeitsgerichts Marburg a.D.,
gibt Praxistips rund um das Thema Bewerbung und Arbeitsrecht.

 

Folge 107: Gebetspausen während der Arbeitszeit?

Der Fall:

    Arbeitnehmer Muhammed Ali ist beim Autohersteller Blechle an einer Fertigungsstraße beschäftigt. Die Frühschicht beginnt um 6 Uhr.
    Muhammed begehrt für die Zeit zwischen 6 Uhr und 8 Uhr morgens eine Freistellung von 3 Minuten, um ein Morgengebet verrichten zu können. Arbeitgeber Blechle verweigert dies. Er begründet dies damit, daß unzumutbare betriebliche Störungen durch die Unterbrechung entstehen könnten, da die Fertigungsstraße dann 3 Minuten stillstehe. Er verweist auf das Direktionsrecht und darauf, daß in der Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeit keine Gebetspausen vorgesehen sind. Außerdem habe Muhammed das Problem von Anfang an gekannt und trotzdem die Arbeit begonnen.
    Muhammed Ali beruft sich dagegen auf seine Gewissensfreiheit, die nach Art. 4 Abs. 2 GG auch für Muslime bestehe. Er fordert vom Arbeitgeber organisatorische Maßnahmen, um die Gebetszeit zu gewährleisten.
    Arbeitgeber Blechle meint, daß eine solche organisatorische Maßnahme bei noch weiteren 50 Muslimen in der Firma nicht möglich sei. Sonst müßten ca. 500 andere Arbeitnehmer ebenfalls für 3 Minuten ihre Arbeit unterbrechen.
    Wer hat recht?

Die Lösung:

1. Direktionsrecht des Arbeitgebers

    Mit Abschluß des Arbeitsvertrages unterwirft sich der Arbeitnehmer grundsätzlich dem Direktionsrecht des Arbeitgebers für die gesamte Dauer der Arbeitszeit. Das Direktionsrecht ermöglicht es Arbeitgeber Blechle, die Arbeitspflicht des Arbeitnehmers Muhammed im einzelnen nach Zeit, Art und Ort zu bestimmen. Beschränkungen könnten sich nur aus dem Gesetz, Tarifvertrag, einer Betriebsvereinbarung oder dem Arbeitsvertrag ergeben.

2. Betriebsvereinbarung

    Eine Betriebsvereinbarung über die Arbeitszeit und die Arbeitspausen besteht. Darin ist jedoch unstreitig keine Gebetspause vorgesehen. Auch im Arbeitsvertrag ist eine entsprechende Einschränkung bei der Einstellung von Muhammed nicht gemacht worden.

3. Recht auf Religionsausübung

    Art. 4 Abs. 2 Grundgesetz (GG) gibt jedem in Deutschland lebenden Menschen das Recht auf ungestörte Religionsausübung. Darunter fällt auch das Durchführen von Gebeten.
    Nach § 616 Abs. 1 BGB in Verbindung mit § 242 BGB hatte der Arbeitgeber eine nur verhältnismäßig geringfügige Arbeitsverhinderung zu dulden, wenn dies ihm im Rahmen der Interessenabwägung zumutbar ist. Unter diese Duldungspflicht kann auch die Erfüllung einer vorrangigen religiösen Verpflichtung und die ungestörte Religionsausübung im Sinne des grundgesetzlichen Schutzbereiches zählen.
    Für diese Duldungspflicht des Arbeitgebers ist es unerheblich, ob das Morgengebet von der Religion zwingend vorgeschrieben ist, oder vom Gläubigen als verbindliche Handlung angesehen wird. Der Islamrat hat auf Auskunft mitgeteilt, daß es sich bei dem Frühgebet um ein Pflichtgebet handelt, das in die Gewissensentscheidung des einzelnen Gläubigen gestellt ist.

4. Verzicht auf das Grundrecht?

    Die Rechtsprechung hat verschiedentlich einen Verzicht des Arbeitnehmers auf bestimmte Grundrechte angenommen, wenn der Arbeitnehmer beim Abschluß des Arbeitsvertrags damit rechnen mußte, daß die ordnungsgemäße Erfüllung des Vertrages mit seinen Glaubens- oder Gewissenspflichten kollidieren kann. Dies gilt z.B. für Pazifisten, die sich auf einen Arbeitsplatz in der Rüstungsindustrie beworben haben.
    Ein solcher Verzicht auf das Grundrecht ist weitgehend. Es müssen deshalb entsprechende konkrete Anhaltspunkte vorliegen. Arbeitnehmer Muhammed mußte bei der Einstellung nicht zwingend damit rechnen, daß sein kurzes Morgengebet vom Arbeitgeber grundsätzlich verweigert wird. Von einem Verzicht kann deshalb nicht ausgegangen werden.

5. Grundrechtekollision

    Nicht nur Muhammed Ali ist Grundrechtsträger, auch Arbeitgeber Blechle hat diverse Grundrechte ins Feld zu führen, nämlich Schutzrechte aus Art. 2 Abs. 1 GG., Art. 12 Abs. 1 GG und Art. 14 Abs. 1 GG. Er hat das Recht auf Handlungsfreiheit, auf Berufsfreiheit und den Eigentumsschutz sowie das Recht am ausgeübten Gewerbebetrieb, das dem Grundrecht des Arbeitnehmers auf Religionsausübung gegenübersteht. Es liegt also eine Grundrechtekollision vor.

6. Unzumutbare Betriebsablaufstörung

    Im Falle einer Grundrechtekollision ist zwischen den einzelnen Grundrechten und der Zumutbarkeit abzuwägen.
    Soweit die betrieblichen Beeinträchtigungen durch das kurze Morgengebet geringfügig oder sich organisatorisch in zumutbarer Weise auffangen lassen, geht das Recht auf ungestörte Religionsausübung den Rechten des Arbeitgebers vor. Muhammed Ali hat recht, daß der Schutz der Gewissensfreiheit für alle Religionen, egal ob Christen, Muslime, Hinduisten etc. gilt. Allerdings gilt die Religionsfreiheit nicht uneingeschränkt, da immer die Rechte der anderen abgewogen werden müssen.
    Soweit das Morgengebet zu einem Stillstand der Fertigungsstraße führt und anderweitig nicht wirtschaftlich nicht sinnvoll und zumutbar aufgefangen werden kann, ist Arbeitgeber Blechle nicht verpflichtet, die Betriebsablaufstörung hinzunehmen.
    Arbeitgeber Blechle hat zu prüfen, inwieweit dem Mitarbeiter Muhammed Ali entgegengekommen werden kann. Er muß jedoch keine erheblichen wirtschaftlichen oder organisatorischen Beeinträchtigungen hinnehmen. Dies gilt vor allem auch deshalb, weil sich der Arbeitnehmer mit dem Vertragsschluß grundsätzlich unter das Direktionsrecht des Arbeitgebers unterworfen hat.
    Bei entsprechenden Betriebsablaufstörungen ohne zumutbare Ausgleichsmöglichkeit muß deshalb der Grundrechtsschutz von Muhammed Ali nach Art. 4 Abs. 2 GG zurückstehen. Er muß den Weisungen des Arbeitgebers Folge leisten und sein Morgengebet unterlassen. Andernfalls riskiert er eine Abmahnung und Kündigung.

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Stichwort-Überblick über die Arbeitsrechts-Folgen:

Abmahnung, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, Arbeitszeugnis, Assessment-Center, Ausgleichsquittung, Beendigungsvergleich, Befristungsrecht, Berufsschulunterricht, Betriebliche Altersversorgung (Entgeltumwandlung, “Riester-Rente”), Betriebliche Mitarbeiterkontrollen, Betriebsausflug, Bewerbungsgespräch, Bewerbungskosten, Bewerbungsurlaub, Dumpinglöhne/Lohnwucher, Ein-Euro-Job, Einstellungsuntersuchung, Elternzeitgesetz, Ethik-Regeln, Erziehungsurlaub/-geld, Gebetspausen, Gehaltsüberzahlung, Geldbußen-Erstattung, Gentest, Gleichbehandlung: (Bewerberauswahl, Gewerbeordnung (neue Regelung), Lohn, Nichteheliche Lebensverhältnisse, Stellenausschreibung), Hartz IV, Kündigung: (Kündigung - was tun? Alkoholmißbrauch, Unzeit, Kleinbetriebe, Kopftuchtragen, Privattelefonate/SMS, Internetnutzung, Schlechtleistung, Schriftform, Sittenwidrige Vergütung, Sperrzeitprobleme, Wiedereinstellungsanspruch, Diebstahl, Schwangerschaft), Kündigungsrecht 2004 (Neuer Abfindungsanspruch, Sozialauswahl, Klagefrist), Lohngrundsätze, Mobbing, Nebentätigkeitsverbot, Psychologisches Gutachten, Rauchverbot/Nichtraucherschutz, Sperrzeit, Teilzeitarbeit (TzBfG), Schwerbehindertenschutz, Videoüberwachung, Weihnachtsgeld (Rückzahlungspflicht)
  

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Arbeitsrecht
von H.G. Rühle

Übersicht über alle bisher erschienenen Folgen:
Folge 1 - 100
Folge 101 - 200
Folge 201 - 300
Folge 301 ff.

 

Folgenübersicht:

1 - 12:
Freie Bewerberauswahl?
Einstellungsuntersuchung Erkundigungen Bewerbungsurlaub
Bewerbungskosten
Zulässige/unzul. Fragen i. Vorstellungsgespräch

13 - 24:
Psych. Gutachten
Gentest
Assessment Center
Neues Befristungsrecht / Teilzeitarbeit (TzBfG)

25 - 36:
Forts. Befristungsrecht / Teilzeitarbeit (TzBfG)
Neues im Erziehungsrecht

37 - 48:
Berufsschule/Freistellung
Dumpinglöhne
Kündigung/soz. Aspekte
Mobbing

49 - 60:
Das Arbeitszeugnis
Zeugnisgrundsätze
Zeugnissprache
Zeugnisbenotung
Zeugnisformulierung

61 - 72:
Kündigung/Kopftuchtragen
Blutuntersuchungen

73 - 84:
Abmahnung
Andere Sanktionen

85 - 96:
Betriebl. Altersversorgung
Betriebsrente
“Riester-Rente”
Entgeltumwandlung

97 - 108:
Forts. “Riester-Rente”
Weihnachtsgratifikation
Kündigung/Schwangersch.
Gebetspausen
Krankheitsvertretung

109 - 120:
Lohngrundsätze I-V
Nebentätigkeitsverbot
Mobbing I-VI

121 - 132:
Kündigung - was tun?
Checkliste

133 - 144:
Kündigung - was tun?
Soll ich klagen?
Wer kann mich beraten?
Wie soll ich klagen?

145 - 156:
Neues Kündigungsrecht 2004

157 - 168:
Neues Kündigungsrecht
Sozialauswahl
Klagefrist
Neuregelung TzBfG

169 - 180:
Hartz IV
Ein-Euro-Job

181-192:
Ein-Euro-Job Forts.
Ausgleichsquittung /
unzulässiger Lohnverzicht

193 - 204:
Betriebsausflug
Elternzeit
Betriebsübergang

205 - 216:
Betriebliche Mitarbeiterkontrollen
Videoüberwachung
Schwerbehindertenschutz

217 - 228:
Neue Gewerbeordnung
Gebetspausen

228 - 240:
Neue Sperrzeitprobleme
Beendigungsvergleich

241 - 252
Ethik-Regeln I-XII

253 - 264
Hitzeregelungen
Internetnutzung (Kündigung)

265 - 276
Nebentätigkeiten
Arbeit auf Abruf

277 - 288
Arbeitslosengeld - Sperrfrist
Neues Elternzeitgesetz / Elterngeld

289 - 300
Arbeitsrechtliche Schwellenwerte
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

301 - 312
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

313 - 323
Sittenwidrige Vergütung

324 - 335
Schutz der behinderten Menschen

336 - 347
Schutz der behinderten Menschen
Annahmeverzug