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Arbeitsrecht von Hans Gottlob Rühle

 

Hans Gottlob RühleHans Gottlob Rühle,
Richter am Arbeitsgericht Gießen,
Direktor des Arbeitsgerichts Marburg a.D.,
gibt Praxistips rund um das Thema Bewerbung und Arbeitsrecht.

 

Folge 320: Strafanzeige gegen den Arbeitgeber

Frage:

Muß ich zuschauen, wie ein leitender Mitarbeiter die Firmenkasse plündert oder wie mein Arbeitgeber die Umwelt verschmutzt oder zu Lasten des Finanzamtes bzw. Arbeitsamtes massive Betrügereien durchführt.

Der Fall:

    Der arbeitslose Schriftsteller Ephraim Kishon ist seit längerer Zeit als Kraftfahrer beim Verein zur Errichtung dauerhafter Luftschlösser e.V. beschäftigt. Die Vereinsvorsitzende Marie Gräfin Dubary hat ihren Zweitgeliebten Alexander Potemkin als Geschäftsführer eingesetzt.
    Seit mehreren Monaten zahlte der Luftschlösserverein die Löhne und Gehälter nicht mehr pünktlich und teilweise überhaupt nicht mehr aus. Ephraim Kishon erfuhr von der Vereinskassiererin Adele Sandrock, daß Geschäftsführer Potemkin und Gräfin Dubary erhebliche Beträge in die eigene Tasche gesteckt haben.
    Darauf hin erstatte Kishon gegen beide Strafanzeige. Aufgrund der nachfolgenden Verurteilung mußte Marie Gräfin Dubary die Gefängniszelle längere Zeit mit Misses Paris H. teilen.
    Vor Strafantritt kündigte die Vorsitzende Gräfin Dubary nach dem Kraftfahrer Kishon fristlos. Sie meint, daß die finanziellen Transaktionen einen einfachen Kraftfahrer nichts angingen. Kishon hält dagegen, daß die Strafanzeige das letzte Mittel gewesen sei, um weiteren Schaden vom Verein und seinem Arbeitsverhältnis abzuwenden.

Die Lösung:

1. Warnung

    Vor einer Strafanzeige gegen den Arbeitgeber oder leitende Mitarbeiter ist zunächst einmal grundsätzlich zu warnen. Ein Betrieb kann nur dann funktionieren, wenn eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern stattfindet.
    Aus diesem Grunde hat die Rechtsprechung in der Vergangenheit selbst bei berechtigten Strafanzeigen eine ordentliche und sogar außerordentliche Kündigungen zugelassen.
    Diese Rechtsprechung hat sich mittlerweile deutlich gewandelt. Gleichwohl sollte die Erstattung einer Strafanzeige stets das letzte Mittel sein. Selbst wenn der Arbeitnehmer obsiegt, ist konkret im Betrieb die vertrauensvolle Zusammenarbeit nach solchen Vorgängen massiv erschwert.

2. Innerbetriebliche Klärung

    Zunächst hat ein Arbeitnehmer generell die Pflicht, vor Erstattung einer Strafanzeige eine innerbetriebliche Klärung zu versuchen.
    Nach der neuen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist es jedoch bei schwerwiegenden Vorfällen nicht zu beanstanden, wenn der Arbeitnehmer auch ohne innerbetriebliche Klärung sofort zu einer Strafanzeige schreitet. Voraussetzung ist allerdings eine entsprechend schwere Straftat.
    Die Straftat der Untreue war in einem solchen Falle ein schwerwiegendes Delikt, das die Existenz des Vereins gefährdete und mit einer Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren bedroht ist.
    Bei solch schweren, existentiellen Straftaten muß die Pflicht des Arbeitnehmers zur Rücksichtnahme regelmäßig zurückstehen.
    Achtung: Dies gilt insbesondere auch dann, wenn mit der Straftat das Allgemeinwohl in besonders schwerwiegender Weise gefährdet wird, z.B. bei Straftaten gegen die Umwelt, bei Subventionsbetrügereien gegenüber dem Staat, bei Steuerhinterziehung oder bei anderen, das Gemeinwohl gefährdenden Handlungen.

3. Berufliche Stellung

    Nach der Rechtsprechung besteht das Recht zur Erstattung von Strafanzeigen bei schwerwiegenden oder gar existentiellen Straftaten unabhängig von der beruflichen oder sonstigen Stellung des Arbeitnehmers. Es spiele deshalb keine Rolle, daß Ephraim Kishon als „schlichter Kraftfahrer“ eingestellt war.
    Wenn ein Arbeitnehmer eine Strafanzeige erstattet, nimmt er ein staatsbürgerliches Recht wahr, das ihm unabhängig von seiner beruflichen Stellung und deren Bewertung durch den Arbeitgeber zusteht.
    Dies gilt insbesondere dann, wenn die Ausübung des Rechts zur Strafanzeige im öffentlichen Interesse liegt oder ein Unternehmen oder einen Verein vor dem Ruin retten kann.
    Tip: Gleichwohl ist generell jedem Arbeitnehmer anzuraten, zunächst eine innerbetriebliche Klärung zu versuchen. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Arbeitgeber nicht völlig uneinsichtig ist und gewisse Erfolgsaussichten für eine Änderung des Verhaltens bestehen.
    Sollten allerdings die Erfolgsaussichten für eine Schlichtung von Anfang an nicht bestehen oder aufgrund objektiver Umstände als gering einzustufen sein, kann dem Arbeitnehmer nicht vorgehalten werden, daß er unverhältnismäßig gehandelt habe.

4. Verurteilung

    Unerheblich ist es, ob die Strafanzeige letztendlich zu einer Verurteilung bzw. zur Durchführung eines Strafverfahrens führt.
    Eine erfolgte Verurteilung ist zwar ein Indiz dafür, daß die Anzeige nicht leichtfertig erhoben wurde. Andererseits kann eine Anklage ebenso wie eine Verurteilung ebenso jedoch aus zahlreichen Gründen unterbleiben. Der Sinn einer Anzeige ist es, zunächst einmal zu klären, ob die Anschuldigungen richtig sind.

5. Falscher Vorwurf / leichtfertige Anzeige

    Ein Grund zu einer Kündigung, auch einer fristlosen Kündigung wird regelmäßig jedoch dann vorliegen, wenn der Arbeitnehmer bei der Erstattung der Anzeige weiß oder erkennen kann, daß der erhobene Vorwurf nicht zutrifft.
    Die Strafanzeige muß zwar nicht zur Verurteilung führen. Wenn der Arbeitnehmer jedoch leicht erkennen kann, daß die Vorwürfe unzutreffend sind, oder wenn der Arbeitnehmer in unverhältnismäßiger Weise von seinem Recht zur Strafanzeige Gebrauch macht, ist auch eine Kündigung gerechtfertigt.
    Auch die Ausübung des bestehenden staatsbürgerlichen Rechts zur Erstattung einer Strafanzeige darf nicht zu unverhältnismäßiger Reaktion, insbesondere nicht zu einer ungerechtfertigten Schädigung des Arbeitgebers oder leitender Mitarbeiter führen.

6. Fazit

    – Erstattet der Arbeitnehmer Strafanzeige gegen seinen Arbeitgeber, ohne zuvor eine innerbetriebliche Klärung zu versuchen, so kann darin eine kündigungsrelevante Verletzung arbeitsvertraglicher Nebenpflichten liegen.
    – Handelt es sich bei den dem Arbeitgeber zur Last gelegten Vorwürfen um schwerwiegende Vorwürfe und sind die betreffenden Straftaten vom Arbeitgeber selbst begangen worden, so braucht der Arbeitnehmer regelmäßig keinen Versuch der innerbetrieblichen Klärung zu unternehmen.
    – Dem kann nicht mit Erfolg entgegengehalten werden, bestimmte Vorgänge gingen den Arbeitnehmer aufgrund seiner (schlichten) Stellung im Unternehmen nichts an. Das staatsbürgerliche Recht zur Erstattung von Strafanzeigen besteht unabhängig von der beruflichen oder sonstigen Stellung und ihrer sozialen Bewertung durch Arbeitgeber oder Dritte.

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Stichwort-Überblick über die Arbeitsrechts-Folgen:

Abmahnung, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, Arbeitszeugnis, Assessment-Center, Ausgleichsquittung, Beendigungsvergleich, Befristungsrecht, Berufsschulunterricht, Betriebliche Altersversorgung (Entgeltumwandlung, “Riester-Rente”), Betriebliche Mitarbeiterkontrollen, Betriebsausflug, Bewerbungsgespräch, Bewerbungskosten, Bewerbungsurlaub, Dumpinglöhne/Lohnwucher, Ein-Euro-Job, Einstellungsuntersuchung, Elternzeitgesetz, Ethik-Regeln, Erziehungsurlaub/-geld, Gebetspausen, Gehaltsüberzahlung, Geldbußen-Erstattung, Gentest, Gleichbehandlung: (Bewerberauswahl, Gewerbeordnung (neue Regelung), Lohn, Nichteheliche Lebensverhältnisse, Stellenausschreibung), Hartz IV, Kündigung: (Kündigung - was tun? Alkoholmißbrauch, Unzeit, Kleinbetriebe, Kopftuchtragen, Privattelefonate/SMS, Internetnutzung, Schlechtleistung, Schriftform, Sittenwidrige Vergütung, Sperrzeitprobleme, Wiedereinstellungsanspruch, Diebstahl, Schwangerschaft), Kündigungsrecht 2004 (Neuer Abfindungsanspruch, Sozialauswahl, Klagefrist), Lohngrundsätze, Mobbing, Nebentätigkeitsverbot, Psychologisches Gutachten, Rauchverbot/Nichtraucherschutz, Sperrzeit, Teilzeitarbeit (TzBfG), Schwerbehindertenschutz, Videoüberwachung, Weihnachtsgeld (Rückzahlungspflicht)
  

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Arbeitsrecht
von H.G. Rühle

Übersicht über alle bisher erschienenen Folgen:
Folge 1 - 100
Folge 101 - 200
Folge 201 - 300
Folge 301 ff.

 

Folgenübersicht:

1 - 12:
Freie Bewerberauswahl?
Einstellungsuntersuchung Erkundigungen Bewerbungsurlaub
Bewerbungskosten
Zulässige/unzul. Fragen i. Vorstellungsgespräch

13 - 24:
Psych. Gutachten
Gentest
Assessment Center
Neues Befristungsrecht / Teilzeitarbeit (TzBfG)

25 - 36:
Forts. Befristungsrecht / Teilzeitarbeit (TzBfG)
Neues im Erziehungsrecht

37 - 48:
Berufsschule/Freistellung
Dumpinglöhne
Kündigung/soz. Aspekte
Mobbing

49 - 60:
Das Arbeitszeugnis
Zeugnisgrundsätze
Zeugnissprache
Zeugnisbenotung
Zeugnisformulierung

61 - 72:
Kündigung/Kopftuchtragen
Blutuntersuchungen

73 - 84:
Abmahnung
Andere Sanktionen

85 - 96:
Betriebl. Altersversorgung
Betriebsrente
“Riester-Rente”
Entgeltumwandlung

97 - 108:
Forts. “Riester-Rente”
Weihnachtsgratifikation
Kündigung/Schwangersch.
Gebetspausen
Krankheitsvertretung

109 - 120:
Lohngrundsätze I-V
Nebentätigkeitsverbot
Mobbing I-VI

121 - 132:
Kündigung - was tun?
Checkliste

133 - 144:
Kündigung - was tun?
Soll ich klagen?
Wer kann mich beraten?
Wie soll ich klagen?

145 - 156:
Neues Kündigungsrecht 2004

157 - 168:
Neues Kündigungsrecht
Sozialauswahl
Klagefrist
Neuregelung TzBfG

169 - 180:
Hartz IV
Ein-Euro-Job

181-192:
Ein-Euro-Job Forts.
Ausgleichsquittung /
unzulässiger Lohnverzicht

193 - 204:
Betriebsausflug
Elternzeit
Betriebsübergang

205 - 216:
Betriebliche Mitarbeiterkontrollen
Videoüberwachung
Schwerbehindertenschutz

217 - 228:
Neue Gewerbeordnung
Gebetspausen

228 - 240:
Neue Sperrzeitprobleme
Beendigungsvergleich

241 - 252
Ethik-Regeln I-XII

253 - 264
Hitzeregelungen
Internetnutzung (Kündigung)

265 - 276
Nebentätigkeiten
Arbeit auf Abruf

277 - 288
Arbeitslosengeld - Sperrfrist
Neues Elternzeitgesetz / Elterngeld

289 - 300
Arbeitsrechtliche Schwellenwerte
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

301 - 312
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

313 - 323
Sittenwidrige Vergütung

324 - 335
Schutz der behinderten Menschen

336 - 347
Schutz der behinderten Menschen
Annahmeverzug