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Arbeitsrecht von Hans Gottlob Rühle

 

Hans Gottlob RühleHans Gottlob Rühle,
Richter am Arbeitsgericht Gießen,
Direktor des Arbeitsgerichts Marburg a.D.,
gibt Praxistips rund um das Thema Bewerbung und Arbeitsrecht.

 

Folge 215: Videoüberwachung III

Der Fall

    Arbeitgeber Wotan betreibt ein Briefsortierzentrum. Dort sind in mehreren Schichten 500 Mitarbeiter beschäftigt. Es werden täglich ca. 2 Millionen Briefsendungen umgeschlagen.
    Wie auch in anderen Briefzentren kam es ständig zu Verlusten bei den Briefsendungen, ohne daß die Ursachen festgestellt wurden. Personalkontrollen beim Verlassen des Briefzentrums wurden nicht durchgeführt.
    Es gab keine konkreten Verdachtsmomente gegen einzelne Mitarbeiter oder Mitarbeitergruppen bzw. einzelne Schichten. Gleichwohl entschloß sich der Arbeitgeber, eine dauernde, offene Videoüberwachung der Arbeitnehmer durchzuführen. Zum einen erhoffte er sich so nähere Anhaltspunkte zum Briefverlust. Zum anderen sollte die Überwachung präventiv wirken und die Arbeitnehmer vor Schlampereien oder Diebstählen abschrecken.
    Der Betriebsrat Tristan stimmte der Videoüberwachung zu. Die schwierige Arbeitnehmerin Isolde klagte aber dagegen, weil sie ihr Persönlichkeitsrecht verletzt sah. Sie wehrte sich dagegen, schon prophylaktisch als Straftäterin abgestempelt zu werden.

Die Lösung

1. Allgemeines Persönlichkeitsrecht

    Arbeitnehmerin Isolde ist darin Recht zu geben, daß der Arbeitgeber Wotan auch im Arbeitsverhältnis das Allgemeine Persönlichkeitsrecht der Arbeitnehmer zu respektieren und zu wahren hat. Er muß dafür sorgen, daß der Arbeitnehmer vor einer unverhältnismäßigen Beschränkung ihrer Grundrechte durch privatautonome Regelungen, d.h. durch Maßnahmen des Arbeitgebers oder durch kollektive Vereinbarungen, wie Betriebsvereinbarungen, geschützt werden.
    Auch der Betriebsrat muß bei der Abfassung von Betriebsvereinbarungen die grundgesetzlich geschützten Rechte der Arbeitnehmer, insbesondere das Recht am eigenen Bild, ausreichend respektieren.

2. Schutzwürdige Belange des Arbeitgebers

    Nur dann, wenn überwiegende schutzwürdige Belange des Arbeitgebers vorhanden sind, kann in das Persönlichkeitsrecht der Arbeitnehmer eingegriffen werden. Bei der Kollision der verschiedenen Rechtspositionen ist eine Güterabwägung vorzunehmen unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles.

3. Notwendigkeit der Überwachung

    Die von Betriebsrat und Arbeitgeber getroffene Regelung zur Videoüberwachung ist nur dann erforderlich, wenn sie zur Lösung des Problems geeignet, erforderlich und unter Berücksichtigung der Persönlichkeitsrechte der Arbeitnehmer angemessen ist.
    Geeignet
    ist die Regelung nur dann, wenn mit ihrer Hilfe der erstrebte Erfolg mit Aussicht gefördert werden kann. Dies ist vorliegend schon fraglich, da der Briefschwund nicht automatisch mit einer Videoüberwachung endet.
    Erforderlich
    ist die Regelung, wenn kein anderes, gleich wirksames, aber weniger einschneidendes Mittel zur Verfügung steht. Das hat Arbeitgeber Wotan und Betriebsrat Tristan vielleicht nicht in ausreichender Weise geprüft oder versucht.
    Angemessen
    ist die Regelung dann, wenn sie verhältnismäßig erscheint. Hier muß eine Gesamtabwägung zwischen der Intensität des Eingriffs einerseits und dem Gewicht der Rechtfertigungsgründe andererseits geführt werden.
    Es ist insbesondere bedeutsam zu prüfen, wie viele Personen intensiv beeinträchtigt werden und ob diese Personen für diese Videoüberwachung einen Anlaß gegeben haben.

4. Überwachungsdruck

    Die von Wotan und Tristan vorgesehene Videoüberwachung stellt einen schwerwiegenden Eingriff in das Persönlichkeitsrecht dar, da eine Vielzahl von Arbeitnehmern einem ständigen Überwachungsdruck ausgesetzt wird. Diese Arbeitnehmer haben für diesen Überwachungsdruck jedenfalls im wesentlichen keinen Anlaß gesetzt. Aus dieser Sicht gibt es deshalb keine hinreichende Rechtfertigung für den schwerwiegenden Eingriff.

5. Bundesdatenschutzgesetz

    Die Arbeitnehmer können sich jedoch nicht auf die Vorschrift des § 6 b BDSG berufen. Diese Vorschrift regelt nur die Beobachtung und Videoüberwachung in öffentlich zugänglichen Räumen. Sie findet keine Anwendung auf Videoüberwachungen am Arbeitsplatz in nichtöffentlichen Betrieben. Eine analoge Anwendung des Gesetzes scheidet aus, da der Gesetzgeber eine direkte Anwendung für private Räume oder geschlossene Betriebsräume nicht wollte.

6. Notwehrsituation

    Eine Notwehrsituation oder notwehrähnliche Lage lag nicht vor. Die Briefverluste waren nicht existenzgefährdend. Es war auch kein konkreter Verdacht einer strafbaren Handlung gegenüber einzelnen Arbeitnehmern zu ermitteln. Eine Notwehrsituation könnte nur gegenüber einem Angreifer und nicht gegenüber der überwiegend „unschuldigen“ Belegschaft geltend gemacht werden.

7. Verhältnismäßigkeit

    Selbst wenn die Überwachung zur Aufklärung des Briefschwundes geeignet wäre, muß Arbeitgeber Wotan die Verhältnismäßigkeit der Mittel beachten. Hier will er 500 Arbeitnehmer rund um die Uhr überwachen lassen, ohne daß eine existenzgefährdende Situation vorliegt und ohne konkrete Verdachtsmomente gegen die Belegschaft insgesamt oder gegen einzelne Arbeitnehmer.
    Diese Überwachung soll auch nicht auf einen bestimmten Zeitraum beschränkt werden. Das Ende ist offen. Damit geht Arbeitgeber und Betriebsrat um ein Vielfaches über das Maß hinaus, das selbst für Strafverfolgungsbehörden bei „längerfristigen Observationen“ zulässig wäre.
    Im Ergebnis ist somit diese generelle, vorbeugende offene Videoüberwachung der Gesamtbelegschaft unverhältnismäßig und rechtswidrig.
    Arbeitnehmerin Isolde hat Recht. Der Arbeitgeber muß verpflichtet werden, diese Videoüberwachung einzustellen und die Anlage wieder abzubauen.
     

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Stichwort-Überblick über die Arbeitsrechts-Folgen:

Abmahnung, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, Arbeitszeugnis, Assessment-Center, Ausgleichsquittung, Beendigungsvergleich, Befristungsrecht, Berufsschulunterricht, Betriebliche Altersversorgung (Entgeltumwandlung, “Riester-Rente”), Betriebliche Mitarbeiterkontrollen, Betriebsausflug, Bewerbungsgespräch, Bewerbungskosten, Bewerbungsurlaub, Dumpinglöhne/Lohnwucher, Ein-Euro-Job, Einstellungsuntersuchung, Elternzeitgesetz, Ethik-Regeln, Erziehungsurlaub/-geld, Gebetspausen, Gehaltsüberzahlung, Geldbußen-Erstattung, Gentest, Gleichbehandlung: (Bewerberauswahl, Gewerbeordnung (neue Regelung), Lohn, Nichteheliche Lebensverhältnisse, Stellenausschreibung), Hartz IV, Kündigung: (Kündigung - was tun? Alkoholmißbrauch, Unzeit, Kleinbetriebe, Kopftuchtragen, Privattelefonate/SMS, Internetnutzung, Schlechtleistung, Schriftform, Sittenwidrige Vergütung, Sperrzeitprobleme, Wiedereinstellungsanspruch, Diebstahl, Schwangerschaft), Kündigungsrecht 2004 (Neuer Abfindungsanspruch, Sozialauswahl, Klagefrist), Lohngrundsätze, Mobbing, Nebentätigkeitsverbot, Psychologisches Gutachten, Rauchverbot/Nichtraucherschutz, Sperrzeit, Teilzeitarbeit (TzBfG), Schwerbehindertenschutz, Videoüberwachung, Weihnachtsgeld (Rückzahlungspflicht)
  

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Arbeitsrecht
von H.G. Rühle

Übersicht über alle bisher erschienenen Folgen:
Folge 1 - 100
Folge 101 - 200
Folge 201 - 300
Folge 301 ff.

 

Folgenübersicht:

1 - 12:
Freie Bewerberauswahl?
Einstellungsuntersuchung Erkundigungen Bewerbungsurlaub
Bewerbungskosten
Zulässige/unzul. Fragen i. Vorstellungsgespräch

13 - 24:
Psych. Gutachten
Gentest
Assessment Center
Neues Befristungsrecht / Teilzeitarbeit (TzBfG)

25 - 36:
Forts. Befristungsrecht / Teilzeitarbeit (TzBfG)
Neues im Erziehungsrecht

37 - 48:
Berufsschule/Freistellung
Dumpinglöhne
Kündigung/soz. Aspekte
Mobbing

49 - 60:
Das Arbeitszeugnis
Zeugnisgrundsätze
Zeugnissprache
Zeugnisbenotung
Zeugnisformulierung

61 - 72:
Kündigung/Kopftuchtragen
Blutuntersuchungen

73 - 84:
Abmahnung
Andere Sanktionen

85 - 96:
Betriebl. Altersversorgung
Betriebsrente
“Riester-Rente”
Entgeltumwandlung

97 - 108:
Forts. “Riester-Rente”
Weihnachtsgratifikation
Kündigung/Schwangersch.
Gebetspausen
Krankheitsvertretung

109 - 120:
Lohngrundsätze I-V
Nebentätigkeitsverbot
Mobbing I-VI

121 - 132:
Kündigung - was tun?
Checkliste

133 - 144:
Kündigung - was tun?
Soll ich klagen?
Wer kann mich beraten?
Wie soll ich klagen?

145 - 156:
Neues Kündigungsrecht 2004

157 - 168:
Neues Kündigungsrecht
Sozialauswahl
Klagefrist
Neuregelung TzBfG

169 - 180:
Hartz IV
Ein-Euro-Job

181-192:
Ein-Euro-Job Forts.
Ausgleichsquittung /
unzulässiger Lohnverzicht

193 - 204:
Betriebsausflug
Elternzeit
Betriebsübergang

205 - 216:
Betriebliche Mitarbeiterkontrollen
Videoüberwachung
Schwerbehindertenschutz

217 - 228:
Neue Gewerbeordnung
Gebetspausen

228 - 240:
Neue Sperrzeitprobleme
Beendigungsvergleich

241 - 252
Ethik-Regeln I-XII

253 - 264
Hitzeregelungen
Internetnutzung (Kündigung)

265 - 276
Nebentätigkeiten
Arbeit auf Abruf

277 - 288
Arbeitslosengeld - Sperrfrist
Neues Elternzeitgesetz / Elterngeld

289 - 300
Arbeitsrechtliche Schwellenwerte
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

301 - 312
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

313 - 323
Sittenwidrige Vergütung

324 - 335
Schutz der behinderten Menschen

336 - 347
Schutz der behinderten Menschen
Annahmeverzug