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Arbeitsrecht von Hans Gottlob Rühle

 

Hans Gottlob RühleHans Gottlob Rühle,
Richter am Arbeitsgericht Gießen,
Direktor des Arbeitsgerichts Marburg a.D.,
gibt Praxistips rund um das Thema Bewerbung und Arbeitsrecht.

 

Folge 202: Berücksichtigung familiärer Belange

Der Fall

    Arbeitnehmerin Maria Theresia war nach der Geburt ihres zweiten Kindes in Elternzeit. Als sie wiederkam, arbeitete sie beim Arbeitgeber Potsdam-Fritz mit 20 Wochenstunden in Teilzeit weiter, weil sie ihren Beruf als Silbertaler-Prägerin nicht aufgeben wollte.
    Im Einvernehmen mit Potsdam-Fritz konnte sie ihre Arbeit in der Münze in Nachtschicht verrichten. So konnte sie ihre Kinder betreuen. Der kleine Franzl war vormittags im Kindergarten. Die ältere Sissi war schon schulpflichtig.
    Arbeitgeber Potsdam-Fritz gestaltete dann die Arbeitszeit der Münze um in einen Zweischichtbetrieb. Die alleinerziehende Maria Theresia sollte nunmehr Früh- und Spätschicht arbeiten. Sie kann das mit der Kinderbetreuung nicht vereinbaren und klagt deshalb.

Die Lösung

1. Vertragliche Regelung

    Maria Theresia macht einen Anspruch auf Arbeit in der Nachtschicht geltend bzw. einen Anspruch auf eine Arbeitszeit, die sich mit den Kinderbetreuungszeiten vereinbaren läßt.
    Ein solcher Anspruch kann in einem Arbeitsvertrag vereinbart sein. Dann könnte der Arbeitgeber diesen vertraglichen Anspruch einseitig nur noch per Änderungskündigung beseitigen. Diese Änderungskündigung wäre gerichtlich überprüfbar.
    Solche vertraglichen Regelungen gibt es in der betrieblichen Praxis jedoch zumeist nicht. Auch Maria Theresia hat eine solche Vereinbarung nicht getroffen.

2. § 106 Gewerbeordnung / Direktionsrecht

    Der Gesetzgeber hat in § 106 Abs. 1 Gewerbeordnung bestimmt, daß der Arbeitgeber Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung nach billigem Ermessen näher bestimmen kann, soweit diese Arbeitsbedingungen nicht durch Arbeitsvertrag, durch die Bestimmungen einer Betriebsvereinbarung oder eines anwendbaren Tarifvertrages festgelegt sind. Der Gesetzgeber hat damit das Direktionsrecht des Arbeitgebers gesetzlich festgehalten.
    Im vorliegenden Falle bedeutet dies, daß Arbeitgeber Potsdam-Fritz die Arbeitszeit und die Schichteinteilung nach den betrieblichen Notwendigkeiten regeln kann. Er muß jedoch über die Grundsätze des billigen Ermessens die berechtigten Interessen der Mitarbeiter ausreichend würdigen und berücksichtigen.
    Die Leistungsbestimmung durch den Arbeitgeber entspricht den Grundsätzen des billigen Ermessens, wenn dieser die wesentlichen Umstände des Falles abgewogen und die beiderseitigen Interessen angemessen berücksichtigt hat.
    Nach neuerer Rechtsprechung gehören zu den angemessen zu berücksichtigenden Interessen der Arbeitnehmerin insbesondere auch deren schutzwürdigen familiären Belange.
    Achtung: Deshalb muß der Arbeitgeber bei der einseitigen Bestimmung der Lage der Arbeitszeit auch auf die Erziehungspflichten und die Personensorgepflichten der Mitarbeiter aus §§ 1626, 1627 BGB ausreichend Rücksicht nehmen.
    Vorliegend hat Arbeitgeber Potsdam-Fritz im Falle eines Prozesses deshalb darzulegen, ob und inwieweit er bei seiner Umorganisation des Betriebes und bei der Abänderung des Schichtsystems die persönlichen Belange einzelner Arbeitnehmer ausreichend berücksichtigt hat. Dies gilt vorliegend insbesondere für die Interessen der Maria Theresia, da sie als alleinerziehende Mutter in besonderer Weise einer Fürsorgepflicht anheimgegeben ist. Sie ist durch ihre familiäre Situation in einer besonders schwierigen Lage. Dies muß der Arbeitgeber zumindest bei seiner Abwägung berücksichtigen.

3. Mitbestimmung

    Soweit im Betrieb des Arbeitgebers Potsdam-Fritz ein Betriebsrat existiert, muß er bei der Veränderung der Schichtsysteme und bei der Veränderung der betrieblichen Arbeitszeit außerdem zunächst die Zustimmung des Betriebsrates nach § 87 Abs. 1 Ziff. 2 Betriebsverfassungsgesetz einholen.
    Auch der Betriebsrat muß bei den Verhandlungen mit dem Arbeitgeber über die neue Lage der Arbeitszeit und bei der Inanspruchnahme seines Mitbestimmungsrechtes im Rahmen seiner Amtspflichten auf die berechtigten familiären Belange der Mitarbeiter Rücksicht nehmen und diese in seine Entscheidung mit einbeziehen.

4. Berechtigte betriebliche Belange

    Die Rücksichtnahme des Arbeitgebers Potsdam-Fritz auf die Arbeitnehmerin Maria Theresia kann jedoch nicht grenzenlos sein. Der Arbeitgeber muß vielmehr einen funktionsfähigen profitablen Betrieb organisieren, um den Erhalt der Arbeitsplätze sicherzustellen.
    Aus diesem Grunde darf der Arbeitgeber bei der Zuweisung der neuen Arbeitszeit durch Direktionsrecht berechtigte betriebliche Belange, insbesondere auch berechtigte Belange anderer Arbeitnehmer berücksichtigen, die ggf. dem Arbeitszeitwunsch der Maria Theresia entgegenstehen.
    Wie in so vielen Fällen konzentriert sich das Hauptproblem bei Maria Theresia auf die Nachmittagsarbeit, da ihre Kinder Sissi und Franzl normalerweise am Vormittag in der Schule bzw. im Kindergarten ausreichend betreut werden.
    Im Prozeß müßte der Arbeitgeber entgegenstehende betriebliche Gründe oder berechtigte Belange anderer Arbeitnehmer darlegen und beweisen. Allgemeine Ausführungen über Schwierigkeiten durch Ausnahmen wie Maria Theresia reichen dazu nicht aus.
    Die Benachteiligung anderer Arbeitnehmer müßte ebenfalls konkret dargetan sein.
    Beiden Seiten, Arbeitnehmerin wie Arbeitgeber, ist es zumutbar, alles in ihrer Macht stehende und wirtschaftlich wie organisatorisch zumutbare zu tun, um gemeinsam das Problem zu lösen. Deshalb ist auf Arbeitnehmerseite zu prüfen, ob eine Problemlösung durch eine Kinderbetreuung außerhalb der Kindergarten- und Schulzeiten möglich und wirtschaftlich zumutbar ist.
    Andererseits ist auf Arbeitgeberseite zu prüfen, weshalb die Durchführung der Nachtarbeit betrieblich nicht mehr möglich, wirtschaftlich nicht mehr tragbar oder sinnvoll ist. Darüber hinaus ist zu prüfen, weshalb die Mitarbeiterin Maria Theresia dann nicht ggf. so in der Früh- oder Spätschicht eingesetzt werden kann, daß sie ihren Kinderbetreuungspflichten wenigstens am Nachmittag und am frühen Abend ausreichend nachkommen kann.

5. Fazit

    – Zu den vom Arbeitgeber im Rahmen des Direktionsrechtes nach § 106 Gewerbeordnung zu berücksichtigenden Umständen gehören auch die schutzwürdigen familiären Belange des Arbeitnehmers.
    – Bei der Bestimmung der Lage der Arbeitszeit muß der Arbeitgeber insbesondere auf die Personensorgepflichten des Arbeitnehmers Rücksicht nehmen. Dies gilt jedenfalls solange, wie einer vom Arbeitnehmer zu Recht gewünschten Verteilung der Arbeitszeit nicht überwiegende betriebliche Gründe oder berechtigte Belange anderer Arbeitnehmer entgegenstehen.

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Stichwort-Überblick über die Arbeitsrechts-Folgen:

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Arbeitsrecht
von H.G. Rühle

Übersicht über alle bisher erschienenen Folgen:
Folge 1 - 100
Folge 101 - 200
Folge 201 - 300
Folge 301 ff.

 

Folgenübersicht:

1 - 12:
Freie Bewerberauswahl?
Einstellungsuntersuchung Erkundigungen Bewerbungsurlaub
Bewerbungskosten
Zulässige/unzul. Fragen i. Vorstellungsgespräch

13 - 24:
Psych. Gutachten
Gentest
Assessment Center
Neues Befristungsrecht / Teilzeitarbeit (TzBfG)

25 - 36:
Forts. Befristungsrecht / Teilzeitarbeit (TzBfG)
Neues im Erziehungsrecht

37 - 48:
Berufsschule/Freistellung
Dumpinglöhne
Kündigung/soz. Aspekte
Mobbing

49 - 60:
Das Arbeitszeugnis
Zeugnisgrundsätze
Zeugnissprache
Zeugnisbenotung
Zeugnisformulierung

61 - 72:
Kündigung/Kopftuchtragen
Blutuntersuchungen

73 - 84:
Abmahnung
Andere Sanktionen

85 - 96:
Betriebl. Altersversorgung
Betriebsrente
“Riester-Rente”
Entgeltumwandlung

97 - 108:
Forts. “Riester-Rente”
Weihnachtsgratifikation
Kündigung/Schwangersch.
Gebetspausen
Krankheitsvertretung

109 - 120:
Lohngrundsätze I-V
Nebentätigkeitsverbot
Mobbing I-VI

121 - 132:
Kündigung - was tun?
Checkliste

133 - 144:
Kündigung - was tun?
Soll ich klagen?
Wer kann mich beraten?
Wie soll ich klagen?

145 - 156:
Neues Kündigungsrecht 2004

157 - 168:
Neues Kündigungsrecht
Sozialauswahl
Klagefrist
Neuregelung TzBfG

169 - 180:
Hartz IV
Ein-Euro-Job

181-192:
Ein-Euro-Job Forts.
Ausgleichsquittung /
unzulässiger Lohnverzicht

193 - 204:
Betriebsausflug
Elternzeit
Betriebsübergang

205 - 216:
Betriebliche Mitarbeiterkontrollen
Videoüberwachung
Schwerbehindertenschutz

217 - 228:
Neue Gewerbeordnung
Gebetspausen

228 - 240:
Neue Sperrzeitprobleme
Beendigungsvergleich

241 - 252
Ethik-Regeln I-XII

253 - 264
Hitzeregelungen
Internetnutzung (Kündigung)

265 - 276
Nebentätigkeiten
Arbeit auf Abruf

277 - 288
Arbeitslosengeld - Sperrfrist
Neues Elternzeitgesetz / Elterngeld

289 - 300
Arbeitsrechtliche Schwellenwerte
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

301 - 312
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

313 - 323
Sittenwidrige Vergütung

324 - 335
Schutz der behinderten Menschen

336 - 347
Schutz der behinderten Menschen
Annahmeverzug