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Arbeitsrecht von Hans Gottlob Rühle

 

Hans Gottlob RühleHans Gottlob Rühle,
Richter am Arbeitsgericht Gießen,
Direktor des Arbeitsgerichts Marburg a.D.,
gibt Praxistips rund um das Thema Bewerbung und Arbeitsrecht.

 

Folge 105: Tariflohnerhöhung aufgrund betrieblicher Übung?

Der Fall:

    Arbeitnehmer Roy Black ist bei dem Musikalienhändler Mick Jagger schon seit Abschluß seiner Lehre beschäftigt. Roy ist nicht in der Gewerkschaft, Mick nicht im Arbeitgeberverband organisiert.
    Trotzdem hat Mick Jagger seit vielen Jahren die Tariflohnerhöhungen ganz oder zumindest z.T. an Roy Black weitergegeben.
    Doch im Jahre 2002 erklärte Mick, daß er die neueste Tariflohnerhöhung aus Kostengründen nicht mitmachen werden. Roy ist empört und klagt auf die Differenz von 60 Euro monatlich ab Juli 2002. Wird er gewinnen?

Die Lösung:

1. Tarifbindung?

    Viele Arbeitnehmer glauben, daß der jeweilige Tariflohn automatisch in ihrem Arbeitsverhältnis gilt. Dies ist ein Irrtum. Eine Tarifbindung liegt nur vor, wenn
    – entweder Arbeitnehmer und Arbeitgeber organisiert, d.h. Mitglied in der Gewerkschaft und im Arbeitgeberverband sind oder
    – die Geltung der einschlägigen Tarifverträge, wie auch der zukünftigen Tarifverträge vertraglich vereinbart ist oder
    – die entsprechenden Tarifverträge vom Ministerium für allgemeinverbindlich erklärt sind.
    Roy und Mick sind nicht organisiert. Eine Allgemeinverbindlicherklärung der einschlägigen Tarifverträge durch das zuständige Ministerium gibt es seit einigen Jahren nicht mehr.

2. Vertraglicher Anspruch

    Ein vertraglicher Anspruch könnte aus einem schriftlichen Arbeitsvertrag folgen. Ein solcher ist aber nicht abgeschlossen worden.
    Auch eine mündliche Vereinbarung wäre möglich und zulässig. Da Mick Jagger die Tariflohnerhöhung stets ganz oder z.T. stillschweigend weitergegeben hat, gibt es keine mündliche Vereinbarung.
    Eine konkludente, stillschweigende Vereinbarung (ohne Worte) kann von Roy Black nicht bewiesen werden.

3. Betriebliche Übung

    Roy Black beruft sich auf betriebliche Übung. Was ist das?
    Unter einer betrieblichen Übung ist die regelmäßige Wiederholung bestimmter Verhaltensweisen des Arbeitgebers zu verstehen. Daraus kann der Arbeitnehmer schließen, daß ihm bestimmte Leistungen oder Vergünstigungen auf Dauer eingeräumt werden sollen.
    Damit ist diese betriebliche Übung ein stillschweigendes Vertragsangebot, das stillschweigend vom Arbeitnehmer angenommen wird. Entscheidend ist, ob der Erklärungsempfänger / Arbeitnehmer das Verhalten des Arbeitgebers nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung aller Begleitumstände entsprechend verstehen mußte und durfte. Es ist andererseits zu prüfen, ob der Arbeitnehmer davon ausgehen mußte, daß die Leistung nur unter bestimmten Voraussetzungen oder für einen bestimmten Zeitraum gewährt wird, nicht aber auf Dauer.

4. Deutliche Anhaltspunkte

    Bei der Auslegung solcher Handlungen und Dauertatbestände muß die gesamte Handhabung des Vertragsverhältnisses geprüft werden. Eine betriebliche Übung auf Erhöhung der Vergütung entsprechend der Tarifentwicklung ohne Tarifbindung des Arbeitgebers kann nur im Ausnahmefall angenommen werden, wenn deutliche Anhaltspunkte im Verhalten des Arbeitgebers vorliegen. Diese Anhaltspunkte müssen aufzeigen, daß der Arbeitgeber sich auf Dauer verpflichten wollte, die Tariferhöhung jeweils weiterzugeben.
    Dabei reicht ein wiederholtes tatsächliches Verhalten des Arbeitgebers nicht aus, um in jedem Falle einen entsprechenden Verpflichtungswillen des Arbeitgebers anzunehmen.

5. Empfängerhorizont

    Entscheidend ist der Empfängerhorizont des Arbeitnehmers.
    So geht das Bundesarbeitsgericht davon aus, daß im Falle einer freiwilligen Leistung, z.B. einer Weihnachtsgratifikation der Arbeitgeber sich binden will, wenn er mehr als 3 Mal hintereinander ohne Vorbehalt und Einschränkung Weihnachtsgratifikation an den Arbeitnehmer stillschweigend gezahlt hat.
    Diese Rechtsprechung kann aber nicht verallgemeinert werden. Es muß auf den besonderen Charakter der jeweiligen Leistung abgestellt werden. Gerade bei der Weitergabe von Tariflohnerhöhungen ohne Tarifbindung ist die Rechtsprechung sehr vorsichtig.
    Im vorliegenden Falle hat Mick Jagger schon in der Vergangenheit die Tariflohnerhöhung nicht stets in vollem Umfange weitergegeben. Zeitweise hat er nur einen Teil der Erhöhung mitgemacht. Dies ist ein Anhaltspunkt dafür, daß der Arbeitgeber sich nicht auf Dauer binden wollte.
    Ein anderes Merkmal könnte darin bestehen, daß der Arbeitgeber die tarifliche Arbeitszeitverkürzung nicht mitgemacht, sondern die betriebsübliche Arbeitszeit bei 40 Stunden belassen hat.
    Aus solchen Indizien muß der Arbeitnehmer folgern, daß der Arbeitgeber keinen Bindungswillen dahin hatte, die Tariflohnerhöhung stets und stets in vollem Umfange weiterzugeben.

6. Fazit

    Hat ein nicht tarifgebundener Arbeitgeber in der Vergangenheit die Löhne und Gehälter entsprechend der Tarifentwicklung erhöht, so begründet dies alleine keine betriebliche Übung auf Erhöhung der Arbeitsentgelte entsprechend der zukünftigen Tarifentwicklung.
    Da Arbeitgeber Mick einerseits schon in der Vergangenheit die Tariflohnerhöhung nicht stets voll weitergegeben hat und Arbeitnehmer Roy andererseits keine weiteren Fakten zu seinen Gunsten anführen kann, wird er die Klage verlieren.

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Textübernahmen aus den Arbeitsrechtsfolgen von Hans Gottlob Rühle:
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Stichwort-Überblick über die Arbeitsrechts-Folgen:

Abmahnung, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, Arbeitszeugnis, Assessment-Center, Ausgleichsquittung, Beendigungsvergleich, Befristungsrecht, Berufsschulunterricht, Betriebliche Altersversorgung (Entgeltumwandlung, “Riester-Rente”), Betriebliche Mitarbeiterkontrollen, Betriebsausflug, Bewerbungsgespräch, Bewerbungskosten, Bewerbungsurlaub, Dumpinglöhne/Lohnwucher, Ein-Euro-Job, Einstellungsuntersuchung, Elternzeitgesetz, Ethik-Regeln, Erziehungsurlaub/-geld, Gebetspausen, Gehaltsüberzahlung, Geldbußen-Erstattung, Gentest, Gleichbehandlung: (Bewerberauswahl, Gewerbeordnung (neue Regelung), Lohn, Nichteheliche Lebensverhältnisse, Stellenausschreibung), Hartz IV, Kündigung: (Kündigung - was tun? Alkoholmißbrauch, Unzeit, Kleinbetriebe, Kopftuchtragen, Privattelefonate/SMS, Internetnutzung, Schlechtleistung, Schriftform, Sittenwidrige Vergütung, Sperrzeitprobleme, Wiedereinstellungsanspruch, Diebstahl, Schwangerschaft), Kündigungsrecht 2004 (Neuer Abfindungsanspruch, Sozialauswahl, Klagefrist), Lohngrundsätze, Mobbing, Nebentätigkeitsverbot, Psychologisches Gutachten, Rauchverbot/Nichtraucherschutz, Sperrzeit, Teilzeitarbeit (TzBfG), Schwerbehindertenschutz, Videoüberwachung, Weihnachtsgeld (Rückzahlungspflicht)
  

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Arbeitsrecht
von H.G. Rühle

Übersicht über alle bisher erschienenen Folgen:
Folge 1 - 100
Folge 101 - 200
Folge 201 - 300
Folge 301 ff.

 

Folgenübersicht:

1 - 12:
Freie Bewerberauswahl?
Einstellungsuntersuchung Erkundigungen Bewerbungsurlaub
Bewerbungskosten
Zulässige/unzul. Fragen i. Vorstellungsgespräch

13 - 24:
Psych. Gutachten
Gentest
Assessment Center
Neues Befristungsrecht / Teilzeitarbeit (TzBfG)

25 - 36:
Forts. Befristungsrecht / Teilzeitarbeit (TzBfG)
Neues im Erziehungsrecht

37 - 48:
Berufsschule/Freistellung
Dumpinglöhne
Kündigung/soz. Aspekte
Mobbing

49 - 60:
Das Arbeitszeugnis
Zeugnisgrundsätze
Zeugnissprache
Zeugnisbenotung
Zeugnisformulierung

61 - 72:
Kündigung/Kopftuchtragen
Blutuntersuchungen

73 - 84:
Abmahnung
Andere Sanktionen

85 - 96:
Betriebl. Altersversorgung
Betriebsrente
“Riester-Rente”
Entgeltumwandlung

97 - 108:
Forts. “Riester-Rente”
Weihnachtsgratifikation
Kündigung/Schwangersch.
Gebetspausen
Krankheitsvertretung

109 - 120:
Lohngrundsätze I-V
Nebentätigkeitsverbot
Mobbing I-VI

121 - 132:
Kündigung - was tun?
Checkliste

133 - 144:
Kündigung - was tun?
Soll ich klagen?
Wer kann mich beraten?
Wie soll ich klagen?

145 - 156:
Neues Kündigungsrecht 2004

157 - 168:
Neues Kündigungsrecht
Sozialauswahl
Klagefrist
Neuregelung TzBfG

169 - 180:
Hartz IV
Ein-Euro-Job

181-192:
Ein-Euro-Job Forts.
Ausgleichsquittung /
unzulässiger Lohnverzicht

193 - 204:
Betriebsausflug
Elternzeit
Betriebsübergang

205 - 216:
Betriebliche Mitarbeiterkontrollen
Videoüberwachung
Schwerbehindertenschutz

217 - 228:
Neue Gewerbeordnung
Gebetspausen

228 - 240:
Neue Sperrzeitprobleme
Beendigungsvergleich

241 - 252
Ethik-Regeln I-XII

253 - 264
Hitzeregelungen
Internetnutzung (Kündigung)

265 - 276
Nebentätigkeiten
Arbeit auf Abruf

277 - 288
Arbeitslosengeld - Sperrfrist
Neues Elternzeitgesetz / Elterngeld

289 - 300
Arbeitsrechtliche Schwellenwerte
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

301 - 312
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

313 - 323
Sittenwidrige Vergütung

324 - 335
Schutz der behinderten Menschen

336 - 347
Schutz der behinderten Menschen
Annahmeverzug